Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
unmittelbar während und nach dem Sternenfall in seinem Zentrum schwer getroffen worden. Hunderttausende hatten in dem Inferno ihr Leben verloren. Zurückgeblieben war eine verstrahlte und zerstörte Wüstenei.
Aus der Asche war der Phönix namens Mondkaiser auferstanden, der sich in seinem Palast, Château Lune, außerhalb der Stadt, zum neuen Herrscher über Francia ausgerufen hatte. Um ihn hatten sich die Überlebenden versammelt. Seitdem wuchs ein Ring aus Leben um das zerstörte Herz des früheren Landes. Wäre Jonan an der Stelle dieser Menschen gewesen, hätte er sich irgendwo eine andere Stadt gesucht, um diese zum Zentrum Francias zu machen. Doch die Francianer waren ein stolzes Volk mit einem Hang zur eigenen, gerne glorreich verklärten Vergangenheit. Ein Symbol wie Paris konnten sie nicht aufgeben, auch nicht, wenn es im Grunde bereits dahin war.
Genau das erklärte Jonan Pitlit, wenn auch in etwas kürzer gefasster Form.
»Oh«, antwortete der Straßenjunge. Und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Aber wir müssen natürlich in die zerstörte Stadt hinein, um zu diesen Koordinaten zu gelangen, die Carya im Kopf hatte, richtig?«
»Nicht ganz«, antwortete Jonan. »Der Ort liegt etwas südlich der Innenstadt. Ich kann dir nicht sagen, wie es dort aussieht, aber wahrscheinlich werden wir nicht mitten in die Trümmerzone hineingehen müssen. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt, Caryas Raketenflugzeug dorthin zu lenken, wenn da niemand wäre, um es in Empfang zu nehmen?«
»Stimmt auch wieder«, gab Pitlit zu.
Sie erreichten einen Knotenpunkt, an dem sich mehrere Wege in einem komplizierten Geflecht aus Auffahrten und Abfahrten kreuzten. Jonan musste ihren Navigator um Rat befragen, und sie setzten sich auf die verwitterte Kunststeinmauer am Rand der Straße. Hinter ihnen wucherten Sträucher und hüfthohes Gras.
Jonan rief das Kartenmaterial auf und versuchte herauszufinden, wo sie sich genau befanden. Irgendwie fehlte eine große Straße, die an dieser Stelle von Norden nach Süden verlaufen sollte. Er musste erst den Kartenausschnitt maximal vergrößern, bevor er begriff, dass es sich nicht um eine Straße, sondern um einen gewaltigen Tunnel handelte, der irgendwo unter ihren Füßen in der Erde lag. »Der Weg ist also versperrt«, murmelte er zu sich selbst. »Uns bleibt entweder ein Umweg oder wir ziehen querfeldein weiter …«
Er verschob den Kartenausschnitt nach Süden, bis er eine weitere Straße entdeckte, die sie direkt nach Süden und fast unmittelbar zu ihrem Zielpunkt führen würde. Dabei fiel ihm ein Gelände ins Auge, das offenbar kaum zwei Kilometer südlich von ihnen lag. Auf der Karte hieß das Schloss Versailles, aber er erkannte die Struktur des Gartens von den Bildern im Unterricht der Templerakademie. »Château Lune …«
»Was sagst du?«, fragte Carya.
Jonan sah zu ihr hinüber. »Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe von Château Lune, dem Herrschersitz des Mondkaisers. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass der Navigator uns so dicht daran vorbeiführen würde.«
Carya legte die hübsche Stirn in Falten. »Und ist das gut oder schlecht?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, es ist egal. Wir sind unauffällig. Niemand wird uns als Fremde erkennen, wenn wir den Mund halten. Trotzdem sollten wir aufpassen. Den Soldaten des Mondkaisers würde ich gerne aus dem Weg gehen.«
»Ihr meint Burschen wie denen da?«, meldete sich Pitlit unvermittelt zu Wort. Aufgeregt sprang der Straßenjunge auf und deutete auf eine der Zufahrtsrampen.
Dort tauchte in diesem Augenblick eine Gruppe Berittener auf, gefolgt von einer offenen Kutsche. Die Männer – es handelte sich ausschließlich um Männer – waren in Blau und Silber gekleidet und hatten Jagdgewehre auf dem Rücken hängen. In scharfem Tempo kamen sie die Straße heraufgeritten.
Fluchend stand Jonan auf. »Schnell, in Deckung. Wir verstecken uns im Gebüsch.« Er nahm Carya am Arm und zog sie hinter die Steinmauer und ins hohe Gestrüpp. Pitlit musste er nicht zweimal bitten. Flink wie ein Wiesel war der Junge im Gras und unter den Sträuchern verschwunden.
Jonan duckte sich hinter einen Strauch, den Beutel zu seinen Füßen, das Sturmgewehr in der Hand. Carya hockte neben ihm. Sie hatte keine Zeit gehabt, einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen. Und dieser Umstand gefiel ihr offensichtlich überhaupt nicht. Jonan hatte diese ganz besondere Anspannung in ihrem Gesicht schon ein paarmal gesehen. Sie machte sich
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