Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
einen Zufall wollte ich nicht glauben. »Die Kirche, die Bank.« So abwegig schien die Meinung von Frau Hofmann nicht mehr zu sein.
Die Lokalpresse schien zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein. In der Tageszeitung fand ich einen Artikel »Münsterplatz bald Disneyland?«. Der Redakteur glaubte einen unbekannten Investor als Drahtzieher ausgemacht zu haben, der, so die Vermutung, den altehrwürdigen Platz in einen dauerhaften Rummelplatz verwandeln wollte. Einen Freizeitpark mit mittelalterlichem Ambiente.
Obwohl ich die Idee als gelegentliches Fest nicht einmal für schlecht hielt, weigerte sich mein Gehirn, hier eine Verbindung herzustellen.
Das Münster war schwach besucht, aber voller Orgelklang. Ich suchte mir einen Platz, der frei von Tonreflektionen der Säulen war, und genoss es mit geschlossenen Augen, in eine schwingende Welt entführt zu werden.
»Wo ist Lisa?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich wieder in der Gegenwart war.
Otto hatte seine Tüten neben mir auf die Bank gepackt.
»Wo ist Lisa?«, wiederholte er.
»Die spielt. Das hören Sie doch.«
»Blödsinn. Das ist nicht Lisa, die spielt anders«, knurrte er und rang mit rasselnden Bronchien nach Luft. »Los, gehen Sie nachsehen. Ich komm da nicht hoch.« Er fuchtelte mit dem Stock in Richtung Empore.
Meine Miene schwankte wohl zwischen Erstaunen und Unglauben.
Ächzend ließ er sich neben mir nieder.
»Machen Sie nicht so ein dummes Gesicht. Jawohl, ich kann Lisas Spiel von anderen unterscheiden. Sie ist unüberhörbar eine Solvay. Jetzt sehen Sie endlich nach, verdammt noch mal.«
Eilig durchquerte ich das Münster und nahm zwei Stufen auf einmal zur Empore.
Es war tatsächlich nicht Lisa, die da spielte.
Da ich sie nirgends entdecken konnte, fragte ich den Küster, der am Spieltisch saß. Er blickte kurz von den Noten auf und zog die Schultern hoch, ohne sein Spiel zu unterbrechen.
Ich klappte seine Noten zu, seine Finger erstarrten im Anschlag, aus den Pfeifen entwich röchelnd die letzte Luft.
»Wo ist Lisa?«, brüllte ich ihn an.
»Was soll die Scheiße? Hier ist sie nicht. Hab sie auch heute noch nicht gesehen.«
Er zog meine Hand weg, die immer noch auf den geschlossenen Noten lag.
»Würden Sie die Güte haben, mich jetzt weiterspielen zu lassen? Sonst erteile ich Ihnen Hausverbot und diesem Stinktier da unten auch. Verschwinden Sie mitsamt Ihrem Müll.«
Eine dumme Situation. Otto verstand es, mich schon Gespenster sehen zu lassen. Wahrscheinlich hatte Lisa das Spiel des Küsters dazu benutzt, um für eine Weile unbeaufsichtigt ihren eigenen Interessen nachzugehen. Wie oft war ich in dem Alter vermeintlich zur Nachhilfe gegangen, hatte aber die Zeit auf dem Bolzplatz verbracht?
Verärgert über meine Überreaktion stieg ich wieder zu Otto hinunter.
Meine Vermutung beruhigte ihn nicht.
»Kannn icht sein«, krächzte er und spuckte auf den Boden, »Lisa sagt immer, wohin sie geht.«
Da Gerda bis heute nicht wissen durfte, dass sich Lisa mit Otto traf, war ich nicht ganz überzeugt, dass Lisa wirklich alles sagte.
»Warten wir’s ab. Sie wird schon kommen, wenn sie Hunger auf Kuchen hat.«
»Nix da. Suchen Sie in der Sakristei. Sie muss hier sein. Ich hätte es gesehen, wenn sie aus dem Münster gekommen wäre.«
Obwohl ich auch diese Aussage bezweifelte, tat ich ihm den Gefallen,schon um zu beweisen,dass es so sein würde, wie ich vermutete.
»Sehen Sie auch in den Spinden nach«, rief er hinterher.
»Suchen Sie wen?«
Die Sakristei war nicht verschlossen, wie ich gehofft hatte. Ein stattlicher Mann war dabei, sein Messgewand überzustreifen.
»Lisa Solvay. War sie hier?«
»Kommen Sie herein. Ich bin Pfarrer Braun.« Er zog sich weiter an. »Entschuldigen Sie. Ich habe gleich eine Taufe. Nein, Lisa war nicht hier. Weiß der Küster nicht ...?«
Wie auf Kommando riss der Küster die Tür auf. »Verdammt, was suchen ...«, erst jetzt schien er den Pfarrer wahrzunehmen, »Entschuldigung, Herr Pfarrer. Ich dachte ...«
»Sie sollen nicht so viel denken und noch weniger fluchen. Sagen Sie lieber, ob Sie Lisa gesehen haben. Dieser Herr sucht sie.«
Der Küster wischte sich die Handflächen an den Hosenbeinen ab.
»Nein. Sie wollte ... ich meine ...« Er war sichtlich irritiert, dass sein Dienstherr ihm sein vermeintliches Reich streitig machte.
»Was nun?«, brummte der Pfarrer einen Ton schärfer.
»Ja, ähm, Lisa wollte heute üben. Aber sie ist nicht gekommen.«
»Ach so. Dann haben Sie sich
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