Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
und » ... beobachten Sie den Münsterplatz. Da mir keiner glauben will, müssen alle fühlen.«
Es dauerte eine Weile, bis ich hinter das Ablagesystem kam.
Die anfängliche Unordnung erwies sich für einen Eingeweihten als ein ausgeklügeltes System. Der Professor war davon ausgegangen, dass jeder, dessen Wurzeln bis zum Mittelalter zurückverfolgt werden konnten, aus dem Stammbaum eines anderen entsprungen sein musste. Die Ablage war fein säuberlich nach gemeinem Volk und dem Adel getrennt, was, wie ich hoffte, meine Suche nach dem Unbekannten erleichtern würde. Aber es blieben immer noch fünfundzwanzig prall gefüllte Ordner.
Da ich nicht die geringste Ahnung hatte, wonach zu suchen war, blätterte ich ziellos herum.
»Schüttel sie mal«, meinte Gerda, über meine Ratlosigkeit grinsend. »Vielleicht fällt ja was raus, woran er zuletzt gearbeitet hat und das noch nicht abgeheftet war.«
Es fiel. Zwei zusammengeklebte Blätter, auf denen sich ein Stammbaum über die gesamte Länge rankte.
Es war der Stammbaum der Habsburger vom zwölften Jahrhundert bis 1918.
Wenn mich zu Schulzeiten ein Lehrer damit gequält hätte, wäre mir bestimmt etwas eingefallen, um den Unterricht zu schwänzen. Nun holte mich die Geschichte ein, quasi als Strafe und Nachsitzen für schlechte Leistungen.
Hier lag ein großer Teil der europäischen Geschichte vor mir, der ein Geheimnis barg, von dem ein Unheil im Heute drohte.
Ein rot gezeichneter Seitenast erregte meine Aufmerksamkeit. Er drang aus dem Nichts vom Rand des Blattes im Jahr 1597 in Richtung der Fürstenfamilie Rinaldo, verlief bis 1737 parallel zu dieser Linie, die jetzt Herzogtum Modena hieß, und vereinigte sich 1771 mit dieser, um sich 1796 erneut mit einem eigenen Ast davon zu trennen und wieder im Nichts zu verlaufen.
Ein dickes Fragezeichen kennzeichnete die Stelle, an der der Professor vermutlich mit seinen Recherchen begonnen hatte.
Wieder eine Frage. Was war zwischen 1796, als das Herzogtum an die Franzosen verloren ging, und 1805 passiert? Was war Weitreichendes geschehen, das seine Wirkung erst heute zeigte?
Gerda hob die Arme. »Was soll das? Lass es dabei bewenden, und lass Vater in Frieden ruhen. Du hast es versprochen.«
Da war sie wieder, diese Situation, in der ich mich in ein schizophrenes Monster verwandelte. Hier der Journalist, der wie ein Bluthund eine Fährte verfolgte, da der Mensch, der abwägend versuchte, möglichst wenig Schaden bei Unbeteiligten anzurichten. Wenn ich aber ehrlich war, so schloss mein Beruf solchen Spagat aus, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich ihn jemals wirkungsvoll geschafft hatte.
Es blieb mal wieder das Prinzip Selbstbetrug auf die Hoffnung, es im entscheidenden Augenblick richtig zu machen.
12
Lisa hatte meine Einladung nicht vergessen.
»Du hast mir Kuchen im Café Hofmann versprochen. Heute hab ich Zeit, weil ich nach der Schule Orgel üben muss. Danach kriege ich bestimmt großen Hunger.«
Dem Argument war nichts entgegenzusetzen. Daher beeilte ich mich, aufs Grundbuchamt zu kommen. Was ich suchte, war mir nicht klar. Nur, dass es um Besitzstände ging, war die einzige einleuchtende Schlussfolgerung.
Ich wurde an einen älteren Herrn verwiesen, dem die kurz bevorstehende Pensionierung ins Gesicht geschrieben stand.
»Was suchen Sie?«, fragte er kopfschüttelnd. »Ob davon noch viel übrig ist, wage ich zu bezweifeln. Im Krieg ist einiges verloren gegangen.«
Mit schlurfenden Schritten führte er mich in den Keller. In einfachen, wie aus einem Metallbaukasten zusammengeschraubten Regalen, reihten sich Kladden an Kladden.
Mit den Fingern lief er über die Rücken, die mit Registernummern und Jahresdaten versehen waren.
Nach zehn Metern drehte er sich zu mir und hob die Schultern.
»Tut mir leid. Es fehlen zweihundert Jahre. Waren wohl die, die den Bomben zum Opfer gefallen sind.«
Ich folgte einer plötzlichen Eingebung: »Wenn ich jetzt der Besitzer eines Grundstücks aus diesen verschwundenen Jahrhunderten wäre, wie könnte ich das beweisen?«
Er lächelte müde zweifelnd und schlurfte an mir vorbei zum Ausgang.
»Wenn Sie irgendetwas vorweisen könnten – eine Grundbuchabschrift, einen Vertrag oder Ähnliches –, das das beweist. Sonst nicht.«
»Und wenn ich das hätte, wie käme ich zu meinem Recht?«
Er machte das Licht aus und verschloss die Tür.
»Dann können Sie sich auf einen sehr langen Prozess mit dem jetzigen Eigentümer gefasst machen ... wenn Sie überhaupt ein
Weitere Kostenlose Bücher