Im Schatten des Palazzo Farnese
Einzigartigkeit er vergessen hatte, als Betrachter ihres gebogenen Profils, das sich so vollendet verkrampft hatte, als sie weinte, als Betrachter jener nur halb ausgeführten Gesten, mit denen sie alle Dinge flüchtig berührte. Er achtete ihren so natürlichen Mut, mit dem sie es, wahrscheinlich besser als früher, verstand herauszufordern, zu weinen, zu beschimpfen und zuletzt auf herrliche Weise überwältigt zu gehen. Der verführerische Reiz dieses Schwankens zwischen Verachtung und Aufgabe war in den vergangenen zwanzig Jahren erhalten geblieben. Früher hatte ihn das aufgewühlt. Jetzt hatte er nur starke Kopfschmerzen. Komplett angezogen ging er wieder zu Bett.
24
Es war spät, fast schon Zeit zum Mittagessen, als Valence am nächsten Tag in Ruggieris Büro vorstellig wurde. Er war aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte rasch sein Möglichstes getan, um seinen zerknitterten Anzug zu glätten. Schon lange hatte er nicht mehr derart vernachlässigt das Haus verlassen. Nachdem Laura gegangen war, hatte er schlecht geschlafen, und der Schlaf war nicht erholsam gewesen. Er hatte einen schweren Druck auf der Stirn.
Ruggieri war nicht da. Valence stampfte im Gang mit dem Fuß auf. Wenn er Ruggieri nicht fände, würde er am Abend nicht in Mailand sein. Keiner der im Büro verbliebenen Mitarbeiter konnte ihm Auskunft geben. Er solle später wiederkommen.
Valence ermüdete sich damit, zwei Stunden durch die Stadt zu laufen. Das Bild des Zuges, der ihn von Rom wegbringen würde, wurde jetzt geradezu zwanghaft. Er ging am Hauptbahnhof vorbei, um sich nach den Abfahrtszeiten zu erkundigen. Mit den Zeiten in der Tasche fühlte er sich der Abfahrt materiell etwas näher. Er hatte das Gefühl, es würde ihm erst wieder gut gehen, wenn er im Zug säße, als würden seine Kopfschmerzen erst im Zug verschwinden, als könnte noch irgend etwas Unangenehmes auftauchen, wenn er hier zu lange verweilte. Er blieb vor einem Schaufenster stehen und betrachtete sich. So unrasiert, fand er, wirkte er wie auf der Flucht, und wieder überkam ihn, genau wie am Vorabend, als er sich an eine Mauer lehnen mußte, das quälende Gefühl, seine Kraft würde in Blöcken schwinden. Er kaufteeinen Rasierapparat, suchte ein Café und rasierte sich auf der Toilette. Mit den Fingern brachte er seine Haare wieder in Ordnung, die durch das nächtliche Schwitzen im warmen Zimmer verklebt waren. Wenn man nicht aufpaßte, packte einen die Schwüle Roms schneller, als man dachte. Er hielt Arme und Oberkörper unters Wasser, knöpfte das nasse Hemd wieder zu und fühlte sich für einen neuerlichen Besuch bei Ruggieri nun besser gewappnet. Vorausgesetzt, dieser Idiot wäre ins Büro zurückgekommen. Er hatte gerade noch sechs Stunden bis zur Abfahrt des Zuges.
Ruggieri war nicht wieder ins Büro gekommen. In den Räumen herrschte große Betriebsamkeit. In der vergangenen Nacht war gegen drei Uhr morgens auf der Via della Conciliazione jemand ermordet worden. Man hatte dem Opfer die Kehle durchgeschnitten, der Kopf war fast vom Leib abgetrennt worden. Das erzählte ihm ein junger Polizist, der im Gang matt auf einer Bank saß. Er hatte den Anblick nicht ertragen.
»Mir hat sich plötzlich alles gedreht«, sagte er leise. »Es heißt, man gewöhnt sich allmählich dran.«
»Ist Ruggieri seit heute morgen dort?« fragte Valence ungeduldig.
»Aber ich habe keine Lust, mich an so einen Anblick zu gewöhnen. Das ganze Blut auf der schwarzen Kleidung, und die Tauben drumherum …«
Der junge Mann schluckte, und Valence versetzte ihm einen kräftigen Schlag in den Rücken, um ihn wieder aufzurichten.
»Ruggieri?« wiederholte er.
»Ruggieri ist seit heute morgen dort, bei ihr, bei der Toten«, antwortete der junge Polizist. »Er sagt, er will sich persönlich darum kümmern, auch wenn es nicht sein Viertel ist. Er war völlig aus der Fassung. Der Fall Valhubert geht jetzt weiter.«
»Bei ihr ?« keuchte Valence. »Ruggieri ist bei ihr ?«
Seine Hand umklammerte die Schulter des Jungen. Er hörte sich mit fast unhörbarer Stimme sprechen.
»Wer ist sie ?«
»Ich weiß ihren Namen nicht, Signore. Ich weiß nur, daß sie ermordet wurde.«
»Beschreib sie, verdammt noch mal!«
»Ja, Signore. Sie hat ein schönes Gesicht und ist vielleicht vierzig oder auch ein bißchen älter, ich weiß es nicht. Mit all dem Blut ist das nicht leicht zu erkennen. Sie hat schwarzes Haar über dem Gesicht und eine durchgeschnittene Kehle. Außerdem ist da noch ein
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