Im Schatten (German Edition)
ganze Situation empfand sie als peinlich und auch ihre Versuche, sich mit konzentrierter Arbeit abzulenken, änderten nichts an dem unangenehmen Gefühl in der Magengegend. Immer wieder sah sie nervös auf ihre Uhr, deren Zeiger im Schneckentempo dahinzuschlendern schienen. Als um kurz vor neun Uhr die Eingangstür schwungvoll ausgestoßen wurde, fühlte sie Schweißtropfen ihren Rücken herunterlaufen. Wie immer betrat Mark mit einem gut gelaunten »Moin« den Raum. Einige Tage nach seinem Eintritt hatte er sich eine Begrüßungsprozedur angewöhnt: Er begrüßte immer die Frauen im großen Büro zuerst, natürlich mit Handschlag und meistens wechselte er dabei mit jeder ein paar Worte. Dann machte er je einen Abstecher in die beiden Arbeitszimmer und holte sich schließlich einen Kaffee aus der Küche, bevor er in seinem Büro verschwand. Auch heute machte er keine Ausnahme, und er sah Valerie dabei freundlich wie immer an.
» Und alles klar bei Ihnen, Valerie? Haben Sie unseren kleinen Ausflug gut überstanden?«, fragte er, als wäre nie etwas geschehen. Sicherlich wollte er damit ganz klare Grenzen stecken, doch Valerie war sich auch schon vorher darüber im Klaren gewesen. Daher antwortete sie so unbekümmert wie möglich:
» Ja. Und Sie?«
Mark nickte nur kurz und wandte sich dann Tina zu.
Auch in den nächsten Tagen war ihm nicht im Geringsten anzumerken, dass irgendetwas zwischen ihnen stattgefunden hatte. Er siezte sie auch, wenn sie allein im Büro waren, und behandelte sie wie immer. Nur ein klein wenig distanzierter, empfand Valerie. Kaum ein persönliches Wort fiel zwischen ihnen, geschweige denn ein Kompliment war zu hören. Ihre Gespräche beschränkten sich rein aufs Geschäftliche. Fast schon bedauerte sie die Nacht mit ihm, wenn das der Preis dafür sein sollte. Dennoch musste sie immer wieder daran denken, wie es mit ihm gewesen war, und sie kam sich albern vor, ihn zu siezen, nach allem, was sie von ihm kennen gelernt hatte. Die folgenden Tage wurden schwierig für sie. Einerseits sehnte sie sich nach der lockeren Art, mit der Mark sie vor ihrer gemeinsamen Nacht behandelt hatte, andererseits wünschte sie sich zurück in seine Arme. Am Tag war sie meist abgelenkt durch die Arbeit, denn sie hatte viel zu tun und schaffte es größtenteils, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Zuhause jedoch hatte sie überwiegend Arbeiten zu erledigen, bei denen sie ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte, und Gespräche mit Werner kamen nach wie vor nur selten zustande. Norman war dagegen in der Regel unterwegs. So blieb Valerie auch weiterhin abends sehr lange im Büro, um sich ein wenig abzulenken, was Werner jedoch nur sehr unwillig akzeptierte. Erst nach einer langen und heftigen Diskussion gestand er ein, dass man als Arbeitnehmer auch mal Überstunden in Kauf nehmen musste, wenn es die Situation erforderte. Im Büro war Valerie zwar konzentriert, doch oft sehr angespannt. Während sie sonst mit ihrer fröhlichen Art häufig für Spaß und Gelächter gesorgt hatte, war sie in den letzten Tagen eher still, und selbst Tina fragte sie am Anfang der nächsten Woche, ob sie Probleme Zuhause hätte.
» Na ja, was heißt Probleme?«, antwortete Valerie ausweichend. »Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe ist nicht mehr alles so rosig wie am Anfang. Und wenn man erstmal ein gewisses Alter erreicht hat, kann man sich für zwei Wege entscheiden: Entweder man versucht, noch mal etwas aus sich und seinem Leben zu machen, Spaß zu haben, etwas zu erleben, oder man stempelt sich selbst als alt ab und gibt sich auf. Tja, mein Mann und ich scheinen da etwas unterschiedliche Wege zu gehen.«
» Wie meinst du das?«, fragte Tina nun ernsthaft neugierig.
» Ja, wie soll ich dir das erklären? Du bist noch so jung und für dich ist alles, was älter als fünfunddreißig ist, ein alter Tattergreis. Aber man muss doch mit vierundvierzig nicht in Sack und Asche gehen, aufgehen wie ein Hefekloß und nur noch vor der Glotze hängen. Das Leben bietet doch noch viel mehr. Meine Kinder sind erwachsen und ich habe die Möglichkeit, wieder unter Leute zu kommen. Ich will raus, Menschen kennen lernen, tanzen, was weiß ich nicht noch alles. Ich muss mich doch nicht in der Bude verstecken, nur weil ich keine zwanzig mehr bin.«
Tina betrachtete sie von oben bis unten, und während sie sonst eher bissige Bemerkungen für die Ältere übrig hatte, wenn es um deren Aussehen ging, sagte sie heute nur:
» Nein, das hast du wirklich
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