Im Schatten meiner Schwester. Roman
nicht bereit, sie gehenzulassen.« Als keiner von ihnen etwas sagte, blickte sie zu Charlie. »Sie wollen sagen, dass Robin nur noch ein Körper ist, aber sie ist immer noch mein Kind. Das hier geht mir zu schnell. Ich kann nicht denken.«
»Du brauchst Zeit«, stimmte Charlie zu.
Chris verließ den Konferenzraum. Während die anderen zu Robin zurückkehrten, holte er sich im Warteraum Kaffee, doch er goss ihn weg, bevor er viel davon getrunken hatte. Erin war zu Hause bei Chloe. Er wollte eine Zeitlang bei seiner Frau und seiner Tochter sein.
Er wartete am Aufzug, als die Sozialarbeiterin sich zu ihm gesellte. Sie hatte ein rundes Gesicht und eine Mähne aus krausem Haar. »Wie geht es Ihrer Mom?«
Widerspenstig, war sein erster Gedanke, doch er nahm das auf, was Charlie gesagt hatte. »Sie braucht Zeit.«
»Das ist verständlich. Fragen, die das Lebensende betreffen, sind hart. Und wie ist es mit Ihnen? Wo stehen Sie?«
Er blickte auf die Aufzugknöpfe. »Die Tests sind eindeutig. Die Zeit wird das nicht ändern.«
»Sie wird die Tests nicht ändern. Sie könnte aber vielleicht die Gefühle Ihrer Mutter verändern. Haben Sie Kinder?«
»Eine Tochter.«
»Wenn Sie an sie denken, können Sie versuchen, sich vorzustellen, was Ihre Mutter empfindet?«
»Nicht wirklich. Ich bin ein Mann. Das ist etwas anderes.«
Der Aufzug kam. Sie betraten ihn und fuhren schweigend hinunter, doch als Chris nur zum Abschied hätte nicken wollen, sagte sie: »Kann ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen? Es gibt im Hof einen ruhigen Bereich, wo wir reden können.«
Er hatte es schon mit Kaffee probiert, es hatte nicht geholfen. Doch er hatte es noch nicht mit Reden probiert. Diese Frau schien Kathryn zu verstehen. Er fragte sich, ob sie ihn vielleicht auch verstehen würde. In diesem Moment konnte er eine Verbündete brauchen.
Kurz darauf überquerten sie den Hof. Die Sonne war warm, doch gut überlegt gepflanzte Linden spendeten Schatten. Jenseits der Bäume waren die Felsen, und dahinter war der Fluss, und jenseits des Flusses lag ein anderer Staat. Chris liebte die gute Aussicht – vor Chloe waren er und Erin oft auf die Gipfel der Umgebung geklettert –, doch heute beachtete er sie nicht.
Die Sozialarbeiterin wählte einen Tisch, der entfernt von den anderen lag. »Standen Sie Ihrer Schwester nahe?«
Er nickte. »Wir sind als Familie sehr eng.«
»Aber Sie und Robin – standen Sie beide sich nahe?«
»Als wir noch Kinder waren, ja. Dann hatten wir unsere eigenen Interessen. Aber man kann kein Snow sein, ohne in Robins Leben verstrickt zu sein. Ihr Laufen ist alles.«
»Sie klingen nicht bitter.«
»Warum sollte ich? Es ist aufregend.«
»Sind Sie jemals neidisch auf die Aufmerksamkeit gewesen, die sie bekommt?«
»Nein. Ich gehöre zu den Unterstützern.« Und war froh darüber. Als Unterstützer hatte man weniger Druck. Er ging gerne zur Arbeit, kam gerne nach Hause, sah gerne Erin und das Baby und schaute sich gerne die Sox an. Er musste keine Entscheidungen treffen wie seine Eltern oder am Wochenende arbeiten wie Molly. Wenn er Vorsitzender hätte werden wollen, wäre er kein beeidigter Wirtschaftsprüfer geworden. Genug gesagt.
»Unterstützer sind wichtig«, bestätigte die Sozialarbeiterin.
»Ich bin der Zahlentyp in Snow Hill.«
»Stimmen Sie deshalb den Testergebnissen zu?«
Chris zuckte vage mit den Schultern. »Es ist ja nicht so, dass es nur einen Test gegeben hätte. Haben Sie kein Vertrauen zu ihnen?«
»Doch, schon. Aber es ist, wie ich vorhin gesagt habe. Tests ergeben nicht das Gesamtbild. Sie berücksichtigen nicht die Gefühle.«
»Wenn Sie dem Test glauben«, widersprach Chris, »dann hat Robin keine Gefühle.«
»Aber Ihre Eltern.«
Doch in dieser Hinsicht war er nicht wie seine Eltern. »Wie können sie sie so leben lassen? Das ist doch kein Leben.«
»Es ist vielleicht das Einzige, mit dem Ihre Mutter im Augenblick umgehen kann.«
Er hob seine Tasse und stellte sie dann wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Sie ist nicht die Einzige, die betroffen ist. Es ist wie bei Robins Laufen, alle sind beteiligt.«
»Das hier ist anders. Es ist ein Prozess.«
Er überlegte. »Wann endet er?«
»Wenn Ihre Mutter akzeptiert, dass Robin nicht mehr da ist.«
»Wir sollen also alle nur rumstehen und wochenlang – monatelang –
jahrelang
warten?« Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Terri Schiavo wurde fünfzehn Jahre lang am Leben erhalten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass
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