Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten von Montmartre

Im Schatten von Montmartre

Titel: Im Schatten von Montmartre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
Vom Netzwerk:
Etage stand an der rechten Tür nichts,
aber an der linken hing die wortkarge Visitenkarte von Etienne Raphanel. Sieh
an, sieh an! „Einen Raphanel gibt es bei uns nicht“, hatte Suzanne Larcher
gesagt.
    Dritte Etage, Atelier. Eine kleine Schiefertafel
war mit einem riesigen Nagel an der Tür befestigt, und an dem Nagel hing ein
Stück rosafarbene Kreide an einem Bindfaden. „Tretet ein, ohne anzuklopfen,
liebe Leute“, stand auf einer zweiten Schiefertafel.
    Ich trat ein, ohne anzuklopfen. Das Atelier sah
aus wie ein Atelier. Eine hohe Stehlampe mit breitem Schirm tauchte es in
grelles Licht. Ein menschliches Wesen war nicht in Sicht. Schiff ahoi! Ich
wollte schon die immer gleiche und immer gleich blöde Frage: „Ist jemand da?“
stellen, als eine Stimme aus der Loggia rief:
    „Ich komme sofort!“
    Ich nahm meinen Hut ab und blickte auf. Eine
etwas überdurchschnittlich große Frau mit guter Figur in hautenger Hose und
weiter Bluse kam barfuß die Treppe herunter, ein Glas in jeder Hand und eine
Flasche unter dem Arm. Sie mußte die Vierzig schon überschritten haben, doch
das sollte mir erst auffallen, wenn sie direkt vor mir stehen würde. Im
Augenblick bemerkte ich vor allem ihre blau gefärbten Haare. Ihr Kopf erinnerte
mich an einen blauen Wolf (dabei ist doch immer vom weißen Wolf die Rede!).
Bestimmt trug sie eine Perücke.
    Inzwischen hatte Mademoiselle Larcher ihre bistrokratischen
Utensilien auf den Tisch gestellt. Lächelnd kam sie auf mich zu und streckte
mir ihre Hand entgegen, lebhaft und munter wie ein Kolibri, verteufelt
verführerisch.
    „Guten Tag!“ begrüßte sie mich.
    Ihre Stimme war rauh von dem, was sie früher und
was sie kürzlich getrunken hatte. Jedenfalls klang sie genau richtig, um
Interesse zu wecken. Ein Schuß Sinnlichkeit lag auch drin.
    „Ich kenne Sie nicht, aber Sie sind doch sicher
der Freund der Favelles, mit dem sie sich hier treffen wollten. Später gehen
wir dann gemeinsam zu Demougin. Also, herzlich willkommen! Haben Sie auch einen
Namen?“
    „Ich habe mehrere. Deshalb weiß ich auch nicht
mehr, unter welchem ich mich Ihnen vorgestellt habe. Sie erinnern sich, Freitag
am Telefon?“
    Ihre blauen Augen — passend zu den Haaren — mit
den roten Äderchen im Weißen leuchteten auf und zwinkerten mir amüsiert zu.
    „Sie haben mich letzten Freitag angerufen?“
    „Ja, wegen Raphanel.“
    „Ach, Sie waren das!“
    „Ja, ich war das. Und ich bin auch kein Freund
der Favelles. Hab den Namen noch nie gehört.“
    Sie brach in lautes Gelächter aus.
    „Herrlich! Raphanel, ja! Was für eine
Geschichte! Dann haben Sie sich also unter falschem Namen gemeldet? Sie sind
ein Lügner!“
    „Und Sie sind eine Lügnerin. Warum haben Sie mir
das Märchen erzählt? ,Einen Raphanel gibt es bei uns nicht’ und so... In der
Zwischenzeit hab ich nämlich das Gegenteil festgestellt. Er wohnt in der
zweiten Etage, direkt unter Ihnen.“
    Sie schüttelte den Kopf, was ihre Ohrringe zum
Klingen brachte. Nein, sie verlor nicht die Fassung und musterte mich mit
spöttischem Blick.
    „Ich werd’s Ihnen erklären“, sagte sie. „Setzen
wir uns.“
    Das Glas in ihrer Hand sollte wohl für größere
Klarheit sorgen.
    Sie fing an zu erklären:
    Als sie mich angerufen hatte, wußte sie
tatsächlich nichts von einem Raphanel hier im Haus. Am nächsten Tag dann war
ihr ein zusätzlicher Briefkasten mit dem Namen aufgefallen, der auch auf der
Visitenkarte an der Tür in der zweiten Etage stand.
    „Die Wohnung ist immer mehr oder weniger
unbewohnt“, fuhr sie fort. „Ich glaube, der Eigentümer hat sie reserviert.
Nicht für sich selbst, sondern für Notfälle. Für Leute, die plötzlich auf der
Straße sitzen, was weiß ich! In den zehn Jahren, die ich jetzt hier wohne, hat
sie schon mehrmals als Übergang gedient. Um auf Ihren Raphanel zurückzukommen:
Er muß genau am vorigen Freitag eingezogen sein... Freitag war ich übrigens
sternhagelvoll...“
    Sie warf mir einen Blick über den Rand ihres
Glases zu. „Konnte ich Sie von meiner Aufrichtigkeit überzeugen?“
    „Ja, das paßt alles genau zu dem, was ich mir
gedacht habe. Wie heißt Ihr Vermieter?“
    Sie warf mir wieder einen spöttischen Blick zu. „Immobilienbüro Chambón, Avenue du
Maine. Genügt das? Keine weiteren
Fragen? Möchten Sie nicht wissen, welche Farbe mein Strumpfhalter hat?“
    „Warum sollte ich das nicht wissen wollen? Also:
Welche Farbe?“
    „Lila. Genauer gesagt: veilchenblau.“
    „Veilchenblau!

Weitere Kostenlose Bücher