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Im Sog der Angst

Im Sog der Angst

Titel: Im Sog der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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sie. »Falls sich rausstellt, dass er mit seinen Patientinnen geschlafen hat, wäre ich auch nicht überrascht.«
    »Warum nicht?«
    »Nur so ein Gefühl.«
    »Aber du hast nie wirklich irgendwas in der Richtung gehört.«
    »Ich hab nie irgendwas über ihn gehört, außer, dass er Mary Lous Partner war. Vielleicht hat das mein Urteil beeinflusst. Wegen ihres Rufs. Dass sie teuer und publicitysüchtig wäre. Auf mich machte Gull den gleichen Eindruck.«
    »Albin Larsen tut das nicht«, sagte ich.
    »Er hat mehr was von einem Professor.«
    »Offensichtlich ist er eine Art Menschenrechtler. Vielleicht haben sie ihn wegen seiner Seriosität in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Als wir ihn und Gull befragt haben, hat Gull geschwitzt, und Larsen schien sich zurückzuhalten. Als fände er Gull ein bisschen … geschmacklos.«
    »Es klingt nicht so, als ob Mary Lou und Gull mit ihrer Affäre sonderlich diskret umgegangen wären«, sagte sie. »Also wusste Larsen vielleicht Bescheid.« Sie schüttelte den Kopf. »Seinen Wagen vor ihrem Haus stehen zu lassen. Ich bin als Psychologin geneigt zu glauben, dass Zufälle ziemlich selten sind. Meinem Gefühl nach wollten beide, dass Gulls Frau dahinter kommt. Ganz schön grausam.«
    »Vielleicht betrachtete sich Koppel als Alphaweibchen«, sagte ich.
    »Ein wahres Alphaweibchen hätte es nicht nötig, den Mann einer anderen zu stehlen«, erwiderte sie. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ich habe noch fünf Minuten.«
    »Mist.«
    »Also, was geschieht jetzt mit der Praxis, wo Mary Lou nicht mehr ist?«
    »Gull und Larsen sagen, sie übernehmen alle Patienten, die mit ihnen weitermachen wollen, und überweisen den Rest anderweitig.«
    »Falls nur ein kleiner Prozentsatz von Mary Lous Patienten zu ihnen kommt, könnte das ein ganz schönes Zusatzeinkommen sein.«
    Ich starrte sie an. »Meinst du, Profitdenken kommt als Motiv in Frage?«
    »Ich stimme mit dir überein, Wut und Dominanz spielen dabei eine Rolle, und wahrscheinlich ein paar sexuelle Untertöne. Aber Profit wäre ein hübscher Vorteil am Rande. Und falls Gull euer Mörder ist, würde es ins Bild passen. Was könnte für einen Psychopathen berauschender sein, als eine Frau auszuschalten, die er einmal sexuell besessen hat, und ihr Geschäft zu plündern? Das ist elementare Kriegskunst.«
    Kleine Flecken Farbe zeigten sich auf ihren elfenbeinernen Wangen. Robin war von solchen Diskussionen immer abgestoßen gewesen.
    »Du bist ein interessantes Mädchen«, sagte ich.
    »Interessant, aber unheimlich, wie?«, entgegnete sie. »Du kommst wegen ein bisschen Romantik vorbei, und ich analysiere mit Lichtgeschwindigkeit.«
    Bevor ich antworten konnte, küsste sie mich auf die Lippen und setzte sich abrupt wieder gerade hin.
    »Auf der anderen Seite«, sagte sie, »haben sie uns zum Analysieren auf die Universität geschickt. Ich muss gehen. Ruf mich bald wieder an.«
    Dr. Leonard Singh war groß und leicht gebeugt, mit muskatfarbener Haut und klaren bernsteinfarbenen Augen. Er trug einen exquisiten italienischen Anzug - dunkelblau mit einem blassroten Fensterkaro unterlegt -, ein gelbes Hemd mit breitem Kragen, eine glänzende rote Krawatte mit passendem Einstecktuch und einen pechschwarzen Turban. Sein Bart war voll und grau, sein Schnurrbart in Kipling-Manier.
    Er war überrascht, mich in seinem Wartezimmer zu sehen, und überraschter, als ich ihm sagte, warum ich da war. Aber er war nicht reserviert; er bat mich in den beengten grünen Raum, der als sein Arbeitszimmer im Krankenhaus fungierte. Drei makellose weiße Kittel hingen an einem hölzernen Garderobenständer. Ein Glas mit Pfefferminzstangen stand zwischen zwei Stapeln mit Krankenblättern. Sein medizinisches Examen hatte er in Yale gemacht, sein Akzent stammte aus Texas.
    »Dr. Gull«, sagte er. »Nein, ich kenne ihn nicht wirklich.«
    »Sie haben Gavin Quick an ihn überwiesen.«
    Singh lächelte und schlug die Beine übereinander. »Ich will Ihnen sagen, wie das passiert ist. Der Junge kam durch die Notaufnahme zu mir. Ich war einer von zwei Neurologen im Bereitschaftsdienst und wollte gerade Schluss machen, aber jemand, mit dem ich schon gearbeitet hatte, bat mich, die Konsultation zu übernehmen.«
    Jerome Quick hatte mir einen Namen genannt. Der Hausarzt, ein Golfkumpel …
    »Dr. Silver«, sagte ich.
    »Das stimmt«, erwiderte Singh. »Also habe ich den Jungen untersucht, mich bereit erklärt, ihn zu behandeln, und getan, was ich konnte.

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