Im Sog der Angst
Angesichts der Situation.«
»Geschlossenes Schädeltrauma, nichts zu sehen auf dem Computertomogramm.«
Singh nickte und griff nach dem Glas mit den Süßigkeiten. »Möchten Sie ein wenig Spätnachmittagssaccharose?«
»Nein danke.«
»Ganz wie Sie wollen, sie sind gut.« Er zog eine Pfefferminzstange heraus, biss ein Stück ab, zerknackte es und kaute langsam. »Bei Fällen wie diesen hofft man beinahe auf etwas Offensichtliches auf dem Tomogramm. Man will nicht tatsächlich Gewebeschäden sehen, weil solche Situationen oft deutlich ernster sind. Man will nur gern wissen, wie die Verletzung des Gehirns aussieht, damit man der Familie etwas erzählen kann.«
»Gavins Situation war mehrdeutig«, sagte ich.
»Das Problem bei einem Fall wie Gavins ist, man weiß einfach, dass er Probleme haben wird, aber man kann der Familie nicht genau sagen, was passieren oder ob es von Dauer sein wird. Als ich hörte, dass er ermordet worden war, dachte ich: ›Was für eine Tragödie.‹ Ich habe bei seinen Eltern angerufen und eine Nachricht hinterlassen, aber niemand hat mich zurückgerufen.«
»Sie sind ziemlich durch den Wind. Haben Sie irgendwelche Ideen, was den Mord betrifft?«
»Ideen? Meinen Sie, wer’s getan hat? Nein.«
»Gavins Symptome hatten nach zehn Monaten noch nicht nachgelassen«, sagte ich.
»Kein gutes Zeichen«, erklärte Singh. »Hinzu kam noch, dass alle seine Symptome ins Gebiet der Verhaltensforschung fielen. Psychiatrischer Kram. Wir zellularen Gesellen haben es lieber mit etwas Konkretem zu tun - eine nette solide Ataxie, etwas Ödematöses, damit wir es abschwellen lassen und uns anschließend wie Helden vorkommen können. Wenn wir erst mal in euer Revier abdriften, kommen wir uns ein bisschen verloren vor.« Er biss noch einmal von der Pfefferminzstange ab. »Ich hab für den Jungen getan, was ich konnte. Was darin bestand, ihn zu überwachen, damit ich auf keinen Fall irgendwas übersah, und dann verschrieb ich ihm ein wenig Beschäftigungstherapie.«
»Hatte er Probleme feinmotorischer Natur?«
»Nein«, sagte Singh. »Das war eher eine unterstützende Maßnahme. Wir wussten, dass er Wahrnehmungsverluste und eine gewisse Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hatte. Ich nahm an, dass eine Art psychologische Unterstützung angezeigt war, aber als ich den Eltern gegenüber eine psychotherapeutische Konsultation zur Sprache brachte, wollten sie nichts davon hören. Gavin auch nicht. Deshalb habe ich einen Rückzieher gemacht und B.T. angeboten, weil ich mir dachte, das wäre vielleicht eher nach ihrem Geschmack. Das war es, aber leider … Sie wissen, welche Erfahrungen Gavin mit seiner Therapeutin gemacht hat?«
»Beth Gallegos.«
»Nette junge Frau. Er hat ihr wirklich übel mitgespielt.«
»Haben Sie so etwas schon früher bei Schädeltraumata gesehen?«
»Man kann mit Sicherheit zwanghafte Veränderungen durchmachen, aber nein, ich kann nicht sagen, dass ich jemanden zu einem Stalker habe werden sehen.« Singh knabberte an dem abgebrochenen Ende der Pfefferminzstange.
»Also hat sich die Familie einer Psychotherapie widersetzt«, sagte ich.
» Massiv widersetzt.« Singh lächelte betrübt. »Ich hatte den Eindruck, dass es dieser Familie sehr auf den äußeren Anschein ankam. Dr. Silver war auch dieser Ansicht. Obwohl er sie nicht gut kannte.«
»Tatsächlich?«, sagte ich. »Ich habe gehört, er sei ein Freund der Familie.«
»Barry? Nein, ganz und gar nicht. Barry ist Gynäkologe, er hatte erst kurz zuvor begonnen, die Mutter wegen präklimakterischer Beschwerden zu behandeln.«
Dann hatte Jerome Quick mit der Behauptung, Silver wäre sein Golfpartner, gelogen. Eine kleine Lüge, aber warum?
»Was war denn Ihre Verbindung zu Dr. Gull?«, fragte ich.
»Ich habe keine«, erwiderte Singh. »Nachdem Gavin wegen seines Verhaltens gegenüber Beth in Schwierigkeiten geraten war, rief sein Vater mich an und sagte, der Junge sei festgenommen worden und das Gericht unten in Santa Ana würde ihn wegsperren, wenn sie nicht mildernde Umstände beibringen könnten. Was er von mir wollte, war ein Brief, in dem ich feststellte, dass das Benehmen des Jungen eindeutig auf seinen Unfall zurückzuführen sei. Falls das nicht reichte, wollte er, dass ich für Gavin in den Zeugenstand trete.« Singh steckte den Rest der Pfefferminzstange in den Mund. »Ich muss Ihnen sagen, dass zwei Seelen in meiner Brust wohnten, was diesen Punkt anging. Ich hasse es, vor Gericht aufzutreten, und wusste
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