Im Sog der Sinnlichkeit
winzige Öffnung, durch die fahles Licht in den Flur fiel. Sie näherte sich leise, verharrte bang, wenn eine Diele knarrte.
An der Tür stellte sie sich auf Zehenspitzen und biss gegen den Schmerz die Zähne zusammen. Zuerst sah sie nur schemenhaft Tisch und Stuhl und eine Pritsche, darauf ein Bündel Kleider. Doch allmählich kam ihr das Bündel vertraut vor. Blaues Wollgewebe wie die Schürzen ihrer Schützlinge.
„Betsey?“, flüsterte sie eindringlich. „Bist du das?“
In das Bündel kam langsam Bewegung, und dann erkannte sie das Kind. „Miss?“, fragte sie ängstlich.
„Ich bin es, Betsey. Geht es dir gut?“
Betsey kroch von der Pritsche und rannte zur Tür. „Oh Miss, Sie dürfen nicht hier sein. Sie haben mich eingesperrt, und ich kann nicht raus. Das sind sehr böse Männer. Sie müssen weglaufen!“
Melisande rüttelte erbittert an der Tür. „Was ist mit dem Fenster? Wenn ich ein Seil finde, kannst du aus dem Fenster klettern?“
Betsey schüttelte den Kopf. Sie war schmutzig, Stroh und Dreck hingen in ihrem Haar, an der Stirn hatte sie eine Beule. „Das Fenster ist vergittert.“
Melisande fluchte wie ein Fuhrknecht, und Betsey war schwer beeindruckt. Charity Carstairs schaute sich suchend in dem leeren Flur um. In der Eile hatte sie nicht einmal daran gedacht, ihre kleine Pistole einzustecken, die sie auf ihren Streifzügen durch gefährliche Gegenden von London immer bei sich trug. Ich dumme Gans! schalt sie sich. „Ich muss etwas finden, um die Tür aufzubrechen, Betsey. Sei geduldig, ich bin nicht gut zu Fuß, aber ich beeile mich. Ich hol dich hier raus.“
„Es geht mir ganz gut, Miss. Ich war schon die ganze Nacht hier, und sie bringen mir Essen und lassen mich zufrieden. Können Sie sich vorstellen, was die von mir wollen? Ich bin nicht hübsch wie die anderen und schon zu groß für die Kerle, die kleine Mädchen wollen.“
Melisande wollte gar nicht erst wissen, wo sie diese Weisheiten aufgeschnappt hatte. Aber die Kleine hatte Jahre auf der Straße gelebt, ihr war schon eine Menge zu Ohren gekommen, und es grenzte an ein Wunder, dass sich nicht bereits ein widerlicher Sittenstrolch an ihr vergriffen hatte.
Allerdings hatte sie offenbar noch nie etwas vom Blutopfer einer Jungfrau gehört, und Melisande würde sie ganz sicher nicht darüber aufklären. „Ich weiß es nicht, meine Kleine“, sagte sie zuversichtlich. „Aber das ist auch nicht wichtig. Ich hole schnell Hilfe, und dann fahren wir schleunigst heim und alles wird gut.“
Ein seltsamer Ausdruck huschte über Betseys Gesicht. „Ich glaube nicht, Miss“, sagte sie tonlos.
„Nein? Aber wieso nicht?“, fragte Melisande verdutzt.
Die plötzliche Dunkelheit, die sie einhüllte, beantwortete ihre Frage.
31. KAPITEL
I m Haus an der Bury Street herrschte eine Stimmung, die höchstens als Waffenstillstand zu bezeichnen war. Benedick hätte seinen verhassten Schwager nur zu gerne an die Luft gesetzt, dadurch hätte er freilich auch seine Schwester verloren, und er war nicht in der Verfassung, sich auf weitere Auseinandersetzungen einzulassen oder noch eine Frau aus seinem Leben zu verbannen.
Im Augenblick konnte er gar nichts unternehmen. Sein Schwager hatte seine Verbindungen zur Londoner Unterwelt aktiviert, und seine Kumpane durchkämmten jede Lasterhöhle in der Stadt auf der Suche nach Brandon. Es bestand guter Grund zu der Annahme, dass sie erfolgreicher sein würden als Benedick. Miranda hatte seine Bibliothek in Beschlag genommen und war im Begriff, lange Listen zu erstellen. Er war zu klug oder auch zu feige, um sie nach dem Grund zu fragen, hatte aber den schrecklichen Verdacht, dass sie bereits seine bevorstehende Hochzeit plante. Und er wusste nicht, wie er ihr beibringen sollte, dass Melisande Carstairs ihn nicht nehmen würde, selbst wenn er der einzige Mann auf Erden wäre. Miranda würde ihm nur Fragen stellen, und er war nicht bereit, ihr Auskunft zu geben.
Es blieb ihm keine andere Wahl, als erst einmal seinen Katzenjammer loszuwerden. Eine halbe Stunde im heißen Badewasser hatte geholfen; sämtliche Fenster in seinem Schlafzimmer aufzureißen und die frische Frühlingsluft einzulassen, tat gleichfalls gut. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, dass ein Schluck Brandy angebracht sein könnte, doch dagegen hatte sein Magen rebelliert. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als frisch gebadet, rasiert und entsetzlich nüchtern sich seiner Zukunft zu stellen.
Er würde sie nicht heiraten. Selbst
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