Im Sog der Sinnlichkeit
die ganze Nacht damit verbringen können, ihn zu küssen.
Dieses Verlangen hatte er mit Sicherheit nicht gehabt. Denn sie wusste genau, dass ein Mann eine Frau nur küsste, um sie zur Unzucht zu verleiten. Und hatte ein Mann sein Verlangen an einer Frau gestillt, konnte sie höchstens noch ein Tätscheln der Wange von ihm erwarten, ehe er ihr den Rücken zuwandte und augenblicklich einschlief, ohne auch nur einen weiteren Gedanken an ihre Gefühle zu verschwenden …
Sie befahl sich streng, an etwas anderes zu denken, und holte tief Atem. Wenn sie Gefallen an seinen Küssen fand, weit mehr als je an den Küssen eines anderen Mannes, würde sie dann auch Gefallen an dem finden, was normalerweise folgte? Sie hatte den schrecklichen Verdacht, dass es der Fall sein könnte.
Und dieser Gedanke führte zu einer logischen Schlussfolgerung: Vielleicht war Enthaltsamkeit doch nicht die beste Lösung für jede Frau?
Mit Sicherheit aber war ein Mann wie Benedick Rohan die schlechteste Wahl, die eine Frau treffen konnte. Zum Glück war er unerreichbar für sie, falls sie Illusionen in dieser Richtung haben sollte. Ihre Herkunft war zwar ehrbar, aber völlig unbedeutend, während er der Spross einer alten, wenn auch berüchtigten Adelsfamilie war. Irgendwann würde er den Titel eines Marquis tragen und eine blutjunge Adelige heiraten, gewiss keine alternde Witwe, die ihm vermutlich keine Erben schenken konnte. Viscount Rohan konnte sich unter den schönsten heiratsfähigen Damen umsehen, ohne auf ihr Vermögen schielen zu müssen, da er selbst sehr wohlhabend war. Er müsste nur mit dem Finger schnippen, und die hübscheste liebenswürdigste Debütantin würde ihm mitsamt ihrer Familie um den Hals fallen. Hätte Melisande ihn nicht mit ihren Sorgen um ihre Schützlinge behelligt, hätte er vielleicht schon seine Verlobung bekannt gegeben.
Falls sie sich je zu einer zweiten Heirat entschließen sollte, würde sie allerdings nie wieder auf einen Glücksritter wie Wilfred hereinfallen, sich aber auch nicht mit einem alten Mann wie Thomas zufriedengeben, obwohl sie ihm große Zuneigung entgegengebracht hatte. Nein, sie würde sich einen jungen, gut aussehenden Mann nehmen. Einen Mann, der sie schätzte und dem daran gelegen war, auch ihr Vergnügen zu bereiten, der sie mit ähnlicher Hingabe wie Rohan küsste. War das etwa zu viel verlangt?
Andererseits konnten sich auch charmante Männer in Bestien verwandeln. Aber doch gewiss nicht alle, oder? Vielleicht sollte sie nicht allzu engstirnig denken und nicht die gesamte Männerwelt verdammen. Möglicherweise könnte ihr ja auch noch ein Kindersegen beschert werden.
Emma Cadbury betrat mit sorgenvoller Miene die Küche, goss sich eine Tasse Tee ein und setzte sich zu Melisande. „Das ist ein hübsches Reitkostüm“, stellte sie fest.
„Und seit sieben Jahren aus der Mode“, erwiderte Melisande und strich sich glättend über den Rock. „Einer der Gründe, warum es etwas zu … etwas zu …“
„Attraktiv oder schmeichelhaft ist?“, half Emma ihr auf die Sprünge. „Ich begreife nicht, wieso du dich weigerst, Kleider zu tragen, die deine Figur betonen. Du siehst entzückend in dem Kostüm aus. Dieses sanfte Grün bringt das Blau deiner Augen zur Geltung. Es besteht doch kein Grund, sich nicht an hübschen Kleidern zu erfreuen, Melisande.“
„Ich will keine unerwünschten Männerblicke auf mich ziehen.“
„Und wie steht es mit erwünschten Männerblicken?“
Melisande errötete und hoffte, Emma könne ihre Gedanken nicht lesen. „Gibt es so etwas?“
„Ja“, sagte Emma überzeugt. „Und ich vermute fast, du beginnst es zu erkennen. Du hast mir noch nicht erzählt, wie der gestrige Abend verlief.“
Sie hätte viel darum gegeben, der Freundin zu berichten, was im Boudoir der Elsmeres geschehen war, aber irgendetwas hinderte sie daran. Sie war unschlüssig, ob es an ihrer Verlegenheit lag oder an etwas anderem, jedenfalls scheute sie sich, darüber zu sprechen.
„Erzähl mir lieber, wie es Maudie geht.“ Mitten in der Nacht war Maudie aufgetaucht, blutüberströmt, mit Blutergüssen an Hals, Handgelenken und Fußknöcheln, auch sie ein Opfer der grausamen Spiele des Satanischen Bundes. Sie war völlig verstört und weigerte sich zu sprechen, während man sie wusch und ihre Wunden verband. Nur ihre Augen hatten etwas von den Folterqualen preisgegeben, die sie erlitten hatte. Und Melisandes Abscheu vor dieser verlotterten Bande nichtswürdiger Aristokraten,
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