Im Sog der Sinnlichkeit
Winkel ihrer Seele zu drängen, wo sie ihn unter Verschluss hielt, aber der Schmerz überwältigte sie. Sie schluckte gegen den Knoten an, der ihr die Kehle zuschnürte. Ihn anzusehen, verschlimmerte ihre Pein, weil er nicht Thomas war, weil sie ihn küssen wollte, nicht Thomas. Und das war für sie die schlimmste Form von Verrat.
Es gelang ihr beinahe, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie biss sich auf die Unterlippe, und dann machte er alles nur noch schlimmer, indem er sagte: „Es war nichts. Es war nur ein Kuss.“
Der Damm barst, ihr namenloser Schmerz brach über sie herein. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Thomas’ liebes, von Siechtum gezeichnetes Gesicht verschwamm. Sie wollte und konnte ihre Tränen, die ihr Erleichterung verschafften, nicht zurückhalten. Sie wusste nicht einmal, wann sie zum letzten Mal geweint hatte. Es war unendlich befreiend, ihre Tränen endlich zuzulassen, auch wenn sie Rohan mit ihrem Ausbruch in Verlegenheit brachte. Sie brauchte diese Erlösung.
Sie zog die Beine an, barg ihr Gesicht an den Knien und schluchzte haltlos, sie konnte sich nicht beruhigen. Irgendwann hob sie den Kopf, blickte in Rohans bestürztes Gesicht und versuchte, unter Tränen zu lächeln. „Nicht wegen … Ihnen“, stammelte sie. „Wegen Thomas.“
„Ihr Gemahl?“, fragte Benedick verwirrt. „Wieso weinen Sie seinetwegen?“
„Er fehlt mir“, klagte sie, und ihre Tränen flossen noch heftiger.
Durch ihren Tränenschleier sah sie sein verdutztes Gesicht, wollte sich keine Gedanken über ihn machen und barg das Gesicht wieder an ihren Knien.
Die Berührung seiner Hände erschreckte sie, aber sie war zu schwach, um sich gegen ihn zu wehren. Er schlang die Arme um sie, zog sie auf seinen Schoß und bettete ihren Kopf an seine Brust, sie hörte seinen kraftvollen Herzschlag, fühlte sich geborgen wie in ihrem Traum.
Sie hätte seinen Trost nicht zulassen dürfen, hätte sich erzürnt aus seinen Armen befreien müssen, um wenigstens einen kleinen Teil ihrer Würde zu wahren. Aber sie war verloren, schluchzte in seinen Armen, weinte um ihren Gemahl, ihren lieben väterlichen Freund, der ihr so viel bedeutet und sie mit seinem Tod allein zurückgelassen hatte.
Rohan sagte kein Wort, kein beruhigendes Murmeln, gab ihr nur stummen Trost, bis sie sich endlich allen aufgestauten Kummer von der Seele geweint hatte.
Er schien zu spüren, dass sie bereit war, sich von ihm zu lösen. Sie spannte nur ihre Muskeln ein wenig an, und seine Umarmung wurde lockerer, und sie wusste, er würde sie loslassen, sobald sie Anstalten machte, von ihm abzurücken. Und genau das sollte sie tun, doch stattdessen hob sie ihr tränennasses Gesicht und sah ihn an.
In seinen Augen las sie weder Triumph noch Überheblichkeit. Er erwiderte nur ihren Blick, und plötzlich entsann sie sich ihres Kusses im Traum. Nicht Thomas hatte sie geküsst, sondern Rohan. Und die Wölbung, die sich gegen ihre Hand gepresst hatte, war seine Männlichkeit gewesen.
Aber sie hatte geschlafen, musste sich nicht entschuldigen. Er konnte nicht wissen, dass sie sich erinnerte, und sie hatte nicht die Absicht, ihn aufzuklären, wollte nur den Gedanken an die harte Schwellung in seinen Reithosen verdrängen.
„Wenn Sie auch nur einer Menschenseele erzählen, dass ich geweint habe, reiße ich Ihnen die Leber aus dem Leib.“
„Wissen Sie denn überhaupt, wo sich die menschliche Leber befindet?“ Seine Stimme klang heiter, unbeteiligt, der übliche Tonfall, den er ihr gegenüber anschlug. Gottlob!
„Ja, natürlich“, erwiderte sie und stieß ihm die Faust in die Rippen.
Er hielt sich stöhnend die Seite, und sie glitt von seinem Schoß. „Was anderes haben Sie nicht verdient“, erklärte sie belustigt. „Wollen wir unseren Lunch verzehren?“
Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Ich fürchte, mir ist der Appetit vergangen.“
„Der Appetit kommt mit dem Essen. Sie scheinen eine ausgezeichnete Köchin zu haben. Wenn Sie allerdings ebenso müde sind, wie ich es war, sollten Sie vielleicht auf Wein verzichten.“
„Ich fühle mich ausgeruht. Sie sahen so friedlich aus im Schlaf, dass ich der Versuchung erlag, auch ein wenig zu schlummern. Obwohl Sie ständig meine Seite der Decke beanspruchten. Hat man Ihnen schon mal gesagt, dass Sie eine sehr unruhige Schläferin sind?“
„Ich habe noch nie mit jemand in einem Bett geschlafen.“ Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, weil ihr diese Worte
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