Im Sommer der Sturme
Blackford.« Charmaine war ebenso überrascht. Seit Colettes Tod hatte sie den Arzt nicht mehr gesehen und fragte sich, was er im Haus zu suchen hatte.
»Ich nehme an, die Kinder sind schon im Bett?«
»Aber natürlich, schon länger als eine Stunde«, antwortete sie. »Es ist ja bereits spät.«
»Stimmt.« Er kramte nach seiner Taschenuhr, warf einen Blick darauf und ließ den Deckel zuschnappen. Dann sah er Charmaine abschätzend an. Agatha hielt die junge Frau für ungeeignet und obendrein für keck, doch Robert fragte sich, was er ihr wohl alles entlocken konnte. »Wie geht es denn den Kindern?«
Charmaine war verblüfft, weil er noch nie zuvor das Wort an sie gerichtet hatte. »Besser«, antwortete sie vorsichtig. »Sie haben den Tod ihrer Mutter akzeptiert, aber sie trauern noch und haben sie nicht vergessen.«
»Das sollen sie auch nicht. Sie verdienen großes Lob dafür, wie gut Sie die Kinder in dieser schweren Zeit betreut haben. Agatha sagte, Sie hätten wahre Wunder bewirkt. Wenn ich doch nur bei ihrem Vater denselben Erfolg hätte.«
Mehr musste Charmaine nicht wissen. Seit Colettes Tod hatte Frederic Duvoisin seine Räume nicht mehr verlassen. Außerdem hatte sich herumgesprochen, dass er sich zu Tode hungerte. Zum Glück fragte Jeannette nicht mehr, wann sie ihren Vater besuchen könne, denn diesem Alptraum wollte Charmaine die Kinder nicht aussetzen.
In diesem Moment erschien Agatha und zog ihren Bruder mit sich fort. Charmaine ging zum Piano und suchte, bis sie das richtige Notenheft gefunden hatte. Das Stück war wie für diese Nacht geschaffen: Ob eine quälende Melodie die Geister vertreiben konnte, die ihre Seele heimsuchten? Sie stellte die Notenblätter auf den Ständer, strich ihre Röcke glatt und begann zu spielen.
Mit geschlossenen Augen hockte Frederic Duvoisin in seinem hochlehnigen Sessel und dachte über den Tod nach und über die Leichtigkeit, mit der das Leben ihm entglitt. Ein Klopfen an der Tür – und sofort verwandelte sich die Apathie in Wut. Verdammt! Wann würden sie seine Entscheidung endlich respektieren? War er denn nicht der Herr dieses Hauses? Warum wollten sie ihn denn unbedingt zurückhalten? Er wollte seiner Frau in die nächste Welt folgen – und die Bewohner dieser Welt sollten allesamt verdammt sein, wenn ihnen das nicht gefiel.
Er überhörte auch das zweite Klopfen, das dritte und das vierte. Aber die Eindringlinge waren hartnäckig. Nach dem fünften Klopfen kamen sie ohne Erlaubnis herein. Und dann betrachteten ihn Bruder und Schwester so abschätzend, als ob er nicht mehr zurechnungsfähig wäre. Robert trat noch einen Schritt näher, beugte sich vor und sah ihm aus nächster Nähe ins Gesicht, damit er endlich seine Lider hob. »Frederic?«, fragte er.
Aber Frederic verharrte bewegungslos und ließ nicht erkennen, dass er seine »Besucher« überhaupt bemerkt hatte.
Blackford richtete sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah seine Schwester an.
»Habe ich es dir nicht gesagt?«, flüsterte Agatha, aber nicht so leise, dass man es nicht gehört hätte. »So geht das schon seit beinahe zwei Wochen … Seit Paul nach Espoir gesegelt ist.«
»Damit ist jetzt Schluss«, rief Robert. »Frederic, sehen Sie mich an!«
Schwungvoll warf Frederic den Kopf in den Nacken und starrte den Doktor mit nackter Verachtung an.
Robert schrak zurück. »Schon besser«, murmelte er und zerrte unsicher an seiner Jacke. Dann zog er einen Stuhl heran, damit er Frederics Blick auf Augenhöhe begegnete. Mit Agatha als Verstärkung war er mutig genug. »Es wird Zeit, dass wir uns einmal unterhalten. Colette ist tot, und nichts und niemand kann das ändern. Sie dagegen sind noch äußerst lebendig. Dieser Irrsinn muss sofort aufhören!«
Als keine Antwort kam und ihn Frederic nur weiterhin zornig anfunkelte, kamen Robert erste Zweifel an dessen Geisteszustand. »Frederic? Hören Sie mich? Verstehen Sie, was ich sage? So geht das nicht weiter! Sie wollen doch nicht so enden?« Wieder keine Antwort, nur diese starrenden Augen. »Ich sage Ihnen nur so viel: Ich lasse das nicht zu! Und wenn ich Sie festhalten und füttern muss«, drohte er. » Haben Sie mich verstanden ?«
»Der gute Doktor will mein Leben retten«, sagte Frederic. Seine dunkle Stimme klang rau, als ob ihm das Sprechen schwer fiele. Aber der zynische Ton ließ Bruder und Schwester zusammenzucken.
»Ja«, versprach Blackford, während er auf seinem Stuhl herumrutschte, »falls das nötig
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