Im Sommer der Sturme
ließ den Kopf sinken. Sie sollte nicht an ihn denken. Wie so oft kam sie zu dem Schluss, dass sie nur eine nette Abwechslung für Paul war – eine Frau, mit der man gern zusammen war, die man aber genauso schnell vergaß, wenn man sie eine Zeit lang nicht sah. Verbannte er sie nicht jedes Mal aus ihren Gedanken, wenn er nach Espoir aufbrach? Sie nahm jedenfalls nicht so viel Raum in seinen Gedanken ein, wie das umgekehrt der Fall war. Sie war ja nur die Gouvernante. Paul hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm im Bett gefallen könnte. Aber zu einem Heiratsantrag reichte das nicht. Es war wirklich klüger, ihn zu meiden. Was hatte Colette damals gesagt? Er ist ein Schürzenjäger … Ich möchte nicht, dass Sie Ihr Herz an jemanden verschenken, der Ihre Liebe nicht erwidert . Wenn sie die Warnung nicht befolgte, würde sie mit gebrochenem Herzen enden. Schlag ihn dir aus dem Kopf , dachte sie. Stell dir gar nicht erst vor, wie sich ein Kuss anfühlen würde. Sei lieber froh, dass du in deinem Zimmer bist. Je weniger du von dem Mann siehst, umso besser .
Es klopfte, und Charmaine ließ Millie und Joseph ein, damit sie die Wanne leerten. Als der junge Mann mit zwei randvollen Eimern davonmarschierte, wandte sie sich wie beiläufig an seine Schwester. »Ich habe Master Paul zu den Ställen gehen sehen, aber er ist nicht fortgeritten. Es ist schon ziemlich spät. Ist etwas vorgefallen?«
»Er sorgt sich um die Stute«, sagte Millie, als sie sich aufrichtete und den nächsten Eimer aus der Wanne hob. »Chastity wiehert schon den ganzen Abend, aber für die Geburt ist es noch zu früh. Master Paul hat nach Martin geschickt.«
»Martin?«
»Er ist Hufschmied im Mietstall«, erklärte Millie und schüttelte sich. »Ein abscheulicher Mann. Schrecklich eingebildet, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn man ihn ruft, richtet er sich sogleich häuslich ein. Hoffentlich benimmt er sich nicht wieder so schlecht wie beim letzten Mal. Damals hat er um Mitternacht das ganze Haus aus dem Bett gescheucht, nur weil er etwas essen wollte.«
Charmaine war diesem Martin zwar bisher noch nicht begegnet, aber sie erinnerte sich, dass Yvette ihn einmal erwähnt hatte. »Ich denke, die Sorge ist unbegründet. Wenn Master Paul zu Hause ist, benimmt er sich sicher nicht ganz so schlimm.«
»Glauben Sie? Dieser Martin verschont auch Master Paul nicht. Aber der lässt ihm sein Benehmen meistens durchgehen, weil Dr. Blackford keine Pferde mehr behandelt.«
Joseph kam zurück und füllte zum zweiten Mal die Eimer. Diesmal verließ auch Millie das Zimmer. Noch ein weiterer Gang, dann verschwand auch die Wanne, und Charmaine war wieder allein.
Weit in der Ferne war Donnergrollen zu hören, und die Vorhänge flatterten in der auffrischenden Brise. Char maine schloss die Balkontüren und schlich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer. Yvette lag kerzengerade im Bett und hatte ihre dünne blaue Decke unter den Armen festgesteckt. Jeannette dagegen hatte sich freigestrampelt und musste wieder zugedeckt werden. Der kleine Pierre schnarchte leise vor sich hin. Ein Däumchen steckte im Mund, und seine andere Hand umklammerte das ausgestopfte Lämmchen. Charmaine strich Pierre das Haar aus dem Gesicht, küsste ihn auf die Stirn und verharrte einen Augenblick, um ihn voller Liebe zu betrachten. Als sie die ersten Tropfen fallen hörte, verriegelte sie die Glastüren und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Der Sturm näherte sich mit großer Geschwindigkeit. Der Donner wurde lauter und lauter und immer beängstigender. Charmaine drehte die Flamme der Öllampe kleiner, kniete nieder, um ihre Gebete zu sprechen, und stieg ins Bett. Wie so oft wurde sie auch heute wieder von den Erinnerungen an den furchtbaren Tag vor Colettes Tod heimgesucht. Sie umklammerte ihr Kissen, schloss die Augen und erwartete das Schlimmste …
Aber das Schlimmste ließ auf sich warten. Als die Uhr in der Halle elfmal schlug, spielte der Sturm noch immer Katz und Maus mit ihnen. Obwohl es auf allen Seiten blitzte und donnerte, war der Lärm noch sehr verhalten. So, als ob sich das Unwetter mit Absicht zurückhielt, sie umkreiste und auf genau den richtigen Moment für den Angriff lauerte.
Schritte auf der Treppe linderten ihre Anspannung. Paul war zu Hause. Vielleicht konnte sie jetzt endlich einschlafen, wenn er in der Nähe war und sie beschützte.
Doch Augenblicke später war der tröstliche Gedanke verflogen. Der Himmel schien sich zu öffnen, und der Sturm prallte
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