Im Sommer der Sturme
bestärkte Charmaine nur noch in ihrer Furcht. An den Wechsel von Donner und Blitz hatte sie sich inzwischen gewöhnt, doch als die Uhr im Foyer plötzlich Mitternacht schlug, zuckte sie zusammen. »Herr im Himmel!«, schalt sie sich und packte das Geländer fester. »Was ist nur los mit mir? Ich komme mir vor wie ein erschrecktes Kaninchen. Dabei gibt es doch gar keine Geister.« Mit diesen Worten ging sie etwas beruhigter nach unten.
Da die Tür zu Pauls Ankleidezimmer nur angelehnt war, hörte er leise Schritte auf der Treppe und dann eine bange Stimme. Er stützte sich an den Türrahmen und betrachtete das hübsche Bild, das sich seinen Augen bot. Miss Ryan war wahrlich ein bezaubernder Anblick. Vor allem in halb entkleidetem Zustand. Ihr Haar fiel lose über ihre Schultern, und ihr Morgenmantel war eng um ihre Gestalt geschlungen und betonte ihre schmale Taille und die runden Hüften. Die Versuchung in Person. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Abend im Wohnraum, ungefähr zwei Wochen war das jetzt her, als sie sich einfach neben ihn gesetzt hatte. Inzwischen war sie bereit, sich erobern zu lassen. Dessen war er sicher. Aber bisher waren sie nur selten ungestört geblieben … Doch heute Nacht vielleicht? Hatte er nicht immer auf eine Gelegenheit wie diese gehofft? Wenn alle im Bett waren? Eine bessere Zeit gab es nicht!
Obgleich der Sturm ein wenig nachgelassen hatte, war Charmaine nicht beruhigt. Das Haus war in tiefe Dunkelheit gehüllt, nur ihre kleine Kerze erhellte ihren Weg und hin und wieder ein verirrter Blitz. Außerdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete, obgleich doch alle längst zu Bett gegangen waren. Die Furcht saß wie ein Knoten in ihrem Bauch, als sie, an der Bibliothek vorbei, durchs Speisezimmer in die Küche eilte. »Ich war verrückt, hier herunterzukommen.«
Sie fing an zu summen, um die Geräusche im Dunkel des Raums zu übertönen. Spontan kam ihr nur die Melodie in den Sinn, die sie nicht mehr auf dem Piano spielen durfte. Seltsamerweise fühlte sie sich plötzlich leicht und sicher. Sie erwärmte die Milch und fand auch die Plätzchen, die Mrs. Henderson am Morgen gebacken hatte. Sie räumte alles auf ein Tablett, stellte den Kerzenstummel dazu und machte sich auf den Rückweg.
Als sie aus dem Speisezimmer trat, beleuchtete der Blitzschein die Gestalt eines Mannes, der unter der Tür zum Arbeitszimmer stand. Sekunden später verschluckte die Dunkelheit den Korridor wieder, und die Gestalt war fort. Vor Entsetzen schnappte Charmaine nach Luft, doch der darauffolgende Donner erstickte jeden Laut.
» Wer ist da? «, rief sie laut und betete, dass ihre Augen sie getäuscht hatten.
Aber die Erscheinung war sehr lebendig. Es war Paul, der in den Lichtkreis der Kerze trat. Vor Erleichterung zitterten Charmaine die Knie. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Paul und kam einen Schritt auf sie zu. Sein Haar war zerzaust und sein Morgenmantel nur notdürftig gebunden.
»Ich wusste nicht, dass außer mir noch jemand wach ist«, stotterte sie. Sie erholte sich nur langsam von dem Schrecken.
»Ich habe Ihre Schritte auf der Treppe gehört und dachte, dass Sie vielleicht ein wenig Gesellschaft brauchen. Wie ich sehe, habe ich mich getäuscht.« Er deutete auf das Tablett. »Es war nur der Hunger, der Sie so spät in der Nacht durchs Haus getrieben hat, und nicht die Einsamkeit.«
Charmaine sah auf das Tablett hinunter und lachte leise. »Das ist doch nicht für mich! Die Zwillinge sind vom Sturm aufgewacht, und ich dachte, dass sie mit heißer Milch und Keksen leichter wieder einschlafen.«
»Dann sollte ich Sie eigentlich nicht aufhalten.« Er lächelte. »Aber ich muss es trotzdem tun. Kommen Sie …« Er ging ins dunkle Arbeitszimmer.
Obgleich er das ganz normal gesagt hatte, riet ihr eine innere Stimme, ihm nicht zu folgen. Sie ging nur bis zur Tür. »Ich muss wirklich zu den Kindern. Sie hatten Angst«, fügte sie lahm hinzu. »Und wenn ich nicht bald zurückkomme, regen sie sich nur wieder auf.«
»Bestimmt überleben sie auch noch ein wenig länger«, meinte Paul. »Bis Sie nach oben kommen, sind sie sowieso längst wieder eingeschlafen.« Charmaine konnte nur hoffen, dass er recht hatte. »Möchten Sie denn gar nicht wissen, warum ich Ihnen nach unten gefolgt bin?«
Natürlich war sie neugierig, doch bevor sie etwas sagen konnte, drehte er ihr den Rücken zu und tastete auf dem Tisch nach den Zündhölzern. Der Feuerstein flammte auf. Dann
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