Im Sommer der Sturme
rede, wollte ich Ihnen nur schnell sagen, dass die Kinder bei meiner Großmutter sind.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Nach vier Monaten Abwesenheit hat mich der erste Weg zu meiner Großmutter geführt. Als ich klopfte, waren die Kinder bei ihr.«
»Dann werde ich jetzt schnell zu ihnen gehen«, sagte Charmaine zum Abschied.
George sah ihr nach, schüttelte den Kopf und ging zu dem Gästezimmer, das John bewohnte. Von seiner Groß mutter hatte er erfahren, dass man den armen Kerl im Ungewissen gelassen und ihm weder Colettes Tod noch Agathas Regentschaft mitgeteilt hatte. John musste außer sich vor Zorn sein, falls er seinen Vater schon besucht hatte. George scheute sich vor dem Gedanken, ausgerechnet jetzt mit John reden zu müssen. Vielleicht war das nicht unbedingt der beste Moment, dachte er.
Montag, 21. August 1837
Der Sonntag verlief zum Glück ohne besondere Ereignisse. Als es Abend wurde, dankte Charmaine Gott, dass er sie vor John Duvoisin bewahrt hatte. Sie hatte weitere Boshaftigkeiten befürchtet, aber ihre Ängste waren grundlos. Weder war John zur heiligen Messe erschienen, noch hatte er an den drei gemeinsamen Mahlzeiten teilgenommen, sondern sich in seine Räume zurückgezogen. Annas und Felicias Knickse waren der einzige Beweis für seine Anwesenheit, wenn sie wieder eine neue Flasche Brandy an seiner Tür abliefern mussten. Trotz allem hatte sich Charmaine vorsichtshalber fast den ganzen Tag in ihren Räumen aufgehalten. Der Streit wegen Colettes Brief war ihr noch lebhaft im Gedächtnis, und sie hoffte, die nächste Begegnung so lange wie möglich hinausschieben zu können.
Aus diesem Grund war sie auch heute Morgen sehr früh aufgestanden und beizeiten mit den Kindern zum Frühstück nach unten gegangen. Mit etwas Glück würde der schreckliche Mensch entweder gar nicht bei Tisch erscheinen oder länger schlafen, sodass sie noch einen weiteren Tag gewonnen hatte.
Während Fatima die dampfenden Schüsselchen mit Porridge verteilte, machte sich Charmaine klar, dass sie einen Mann ablehnte, den sie seit kaum achtundvierzig Stunden kannte. Ihr Gewissen meldete sich zu Wort, aber gleichzeitig verschanzte sie sich hinter der Ausrede, dass auch andere unter seiner Gegenwart litten. Die Spannung, die über dem Haus lag, war deutlich zu spüren. Alle Familienmitglieder und Dienstboten schienen nur auf den nächsten Zusammenstoß zu warten. Doch beim nächsten Ausbruch wollte Charmaine, so viel war sicher, nicht wieder anwesend sein.
Also musste sie das Frühstück möglichst schnell hinter sich bringen, um wieder in die Sicherheit des Spielzimmers flüchten zu können. Doch Yvette wollte genau das Gegenteil erreichen. Sie wollte das Frühstück in die Länge ziehen. Also trödelte sie beim Essen und lenkte Pierre und Jeannette ständig mit neuen Albernheiten ab. Sobald Charmaine mahnend auf ihren Teller zeigte, protestierte sie lauthals. »Zu viele Klümpchen.« Irgendwann war der Haferbrei kalt und das Druckmittel verspielt.
»Ich hole mir Milch«, verkündete sie irgendwann. »Ich bin furchtbar durstig.«
»Du bleibst sitzen«, befahl Charmaine. »Ich gehe.«
Als Charmaine ins Speisezimmer zurückkehrte, war Yvette verschwunden. »Wo ist eure Schwester?«
»Fort«, erklärte Pierre. Er packte sein Glas und ver schüttete etwas Milch auf sein Hemd, bevor er gierig zu trinken begann.
»Sie ist ins Kinderzimmer gegangen«, sagte Jeannette.
Doch Charmaine glaubte ihr kein Wort. Notdürftig trocknete sie Pierres Hemd und ging dann mit den Kindern nach oben. Aber das Kinderzimmer war leer, und sofort kam ihr ein schlimmer Verdacht: Die Mädchen hatten fast das ganze Wochenende über gebettelt, dass sie ihren großen Bruder besuchen wollten. Dorthin war Yvette verschwunden!
Nachdem Jeannette versprochen hatte, ihrem Bruder ein wenig vorzulesen, fasste sich Charmaine ein Herz und machte sich auf die Suche nach dem anderen Zwilling. Geräuschlos schlich sie über die Veranda und blieb kurz vor Johns Zimmer stehen. Vorsichtig schob sie den Kopf vor und lauschte. Doch es war nichts zu hören, obgleich die französischen Türen offen standen. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter und spähte ins Zimmer, aber sie konnte nur einen kleinen Ausschnitt sehen … Nichts … Niemand … Sie beugte sich noch ein Stückchen weiter nach vorn, bis sie den Fuß des Betts sehen konnte. Dann noch ein Stückchen, und sie sah die Stiefel. Erschrocken sprang sie zurück, stolperte über ihre eigenen Füße und
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