Im Sommer der Sturme
bereits.«
Sein Ton wurde schärfer. »Dann bestehe ich eben auf einem weiteren.« Er deutete auf den Korridor.
Um ihn nicht zu reizen, gab Charmaine nach, und während er die Tür schloss, mahnte sie sich zur Ruhe.
»Wollen Sie überhaupt nicht wissen, wo ich sie gefunden habe?«
»Nein«, entgegnete sie dickköpfig.
»Wie könnte es auch anders sein.« Er lachte leise. »Unfähig und obendrein dumm.«
Wütend riss Charmaine die Augen auf, aber sie bekam keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen.
»Denken Sie daran, dass die Kinder Ihrer Verantwortung unterstehen, Mademoiselle. Zumindest im Augenblick noch. Yvette hat im Wohnraum nichts verloren, wo sie die Gespräche der Erwachsenen belauschen kann. Ja, richtig. Genau dort habe ich sie gefunden.«
Charmaines Wangen brannten, aber seine herablassende Art und sein Grinsen verleiteten sie zur Unvorsichtigkeit. »Darf ich fragen, ob Sie sich über mich ärgern … oder womöglich über sich selbst?«
Überrascht zog er eine Braue in die Höhe. »Yvette ist Ihnen anvertraut, Mademoiselle.«
»Und ich verstehe nicht, welche Gefahren Yvette im Wohnraum drohen – es sei denn, Sie schämen sich wegen Ihrer ›erwachsenen‹ Bemerkungen über mein Hinterteil. Ohne Ihre Einmischung wäre das Versteck außerdem viel früher entdeckt worden.«
John fand die Entgegnung höchst unterhaltend und ihre großen Augen äußerst entzückend, aber zu einem Sieg reichte das nicht. Nicht einmal zu einem kleinen. Er hatte schon mit ganz anderen Gegnern gefochten und jedes Mal gewonnen. Was kann ich noch sagen, um sie zu reizen und weitere Munition zu sammeln, die ich gegen sie verwenden kann?
»Es ist mir einerlei, was Yvette gehört hat, und von wem erst recht. Aber ich bin in diesem Haus die Aus nahme. Mrs. Duvoisin und selbst mein lieber Bruder wären sicher nicht sehr erbaut, wenn man ihre Gespräche belauschte. Und wenn Ihre Schützlinge dabei erwischt werden, wird man Ihnen unweigerlich die Rechnung präsentieren. Das ist alles, my Charm .«
Wieder das berühmte letzte Wort. Als er davonging, folgte ihm Charmaine. »Das ist noch längst nicht alles!«, fauchte sie und zerrte ihn herum, als er bereits eine Stufe der Treppe hinuntergegangen war und ihr auf derselben Höhe gegenüberstand. »Es gibt noch etwas, Master John! Erstens müssen Sie mich nicht an meine Pflichten erinnern, und zweitens betrachte ich es als Beleidigung, wenn Sie mich als unfähig bezeichnen! Offenbar ist Ihnen entgangen, dass ich die Kinder seit fast einem Jahr betreue und ihr Wohl kein einziges Mal aufs Spiel gesetzt habe! Was Mrs. Duvoisin angeht, so haben Sie recht. Sie hätte vermutlich genau wie Sie reagiert. Aber Ihr Bruder hat mich stets gegen sie in Schutz genommen.«
Zum ersten Mal schien John sprachlos zu sein. Doch als Charmaine bereits triumphieren wollte, hatte er sich wieder gefasst. »Sie haben sicher das Ihrige dazu getan, dass mein Bruder Sie unterstützt, Miss Ryan, aber Sie unterschätzen mich.«
» Wirklich? « Seine wilden Schlussfolgerungen ärgerten sie. »Vielleicht sollten Sie wissen, dass auch Ihr Vater von meiner Arbeit überzeugt ist.«
Seine Augen wurden hart. »Sie haben keine Vorstellung, wie ich Ihr Leben erschweren kann, wenn es mir Spaß macht, Miss Ryan. Aber noch bin ich nicht so weit. Noch nicht. Doch wenn Sie mir mit meinem Vater drohen, werden Sie das schon noch erleben.«
Charmaine spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich.
Zum Glück trat Agatha in diesem Augenblick aus dem Korridor des Südflügels ins Treppenhaus. »Was geht hier vor?«, fragte sie.
»Miss Ryan hat uns beide soeben miteinander verglichen«, antwortete John.
»Uns beide verglichen?«, stieß Agatha hervor. »Da gibt es doch nichts zu vergleichen!«
»Wie wahr«, murmelte John spöttisch und hob grüßend die Hand.
Damit war er fort und ließ Charmaine mit der sichtlich verwirrten Agatha allein. Mit einem hastigen »Guten Morgen« zog sich Charmaine auf das sichere Terrain des Kinderzimmers zurück.
Dort ärgerte sie sich während der nächsten vier Stunden über ihr loses Mundwerk. Warum war sie nur so hochmütig gewesen? Hochmut kommt vor dem Fall … Sie hatte sich einfach zu viel zugetraut und Johns Macht unterschätzt. Sollte sie den Vorfall mit Paul besprechen und ihm von dem Zwischenfall mit dem Brief erzählen? Sie begrub den Gedanken so schnell, wie er ihr gekommen war. Das würde nur zu weiteren Verwicklungen führen. Nun ja, Paul war vielleicht auf ihrer Seite,
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