Im Sommer der Sturme
dass sie die beiden Schwestern einen Tag lang sich selbst überlassen durfte.
Als sie sich an den Frisiertisch setzte und ihre Zöpfe löste, regte Gwendolyn sich. »Guten Morgen.« Sie gähnte. »Warum bist du denn schon auf?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Na, was genau hast du denn für heute geplant?«
»Die Strände. Im Vergleich zu der hässlichen Stadt sind sie einfach überwältigend schön.«
Charmaine bürstete ihre widerspenstigen Locken. »So hässlich fand ich die Stadt gar nicht.« In Wahrheit war sie sogar beeindruckt. Selbst Kapitän Wilkinsons Beschreibungen hatten sie nicht auf die rege Geschäftigkeit der Stadt vorbereitet, die einen großen Eindruck auf sie gemacht hatte. Außer Laden, Saloon, Versammlungshaus und Bank hatte die Stadt auch einen Fassmacher zur Ansiedlung bewogen, dann gab es noch einen Hufschmied samt Schmiede im Leihstall, einen Gerber, einen Töpfer sowie einen Schuster, die in den drei Warenhäusern ihre Dienste anboten. Außerdem konnte man sich in dem Holzlager mit dem nötigen Material für den Hausbau eindecken. Wenn man Mrs. Browning glauben durfte, so stammte das meiste Holz aus den Kiefernwäldern im Norden der Insel, wo es gleich an Ort und Stelle in einem Sägewerk verarbeitet wurde. Alle weiteren Materialien wurden aus Virginia herbeigeschafft. Kapitän Wilkinsons Behauptung, dass sich viele Bewohner dauerhaft auf Charmantes ansiedeln wollten, entsprach offensichtlich den Tatsachen. Überall wurde gebaut, und nur der Ozean führte einem vor Augen, dass diese aufstrebende Stadt auf einer Insel lag und überhaupt kein Hinterland besaß.
Interessiert beobachtete Gwendolyn, wie Charmaine ihre Haarsträhnen zu einem dicken Knoten zusammensteckte. »Du hast ungewöhnlich dickes Haar. Wieso ist es so lockig?«
»Keine Ahnung. Zuweilen verfluche ich das Schicksal, weil meine Eltern beide völlig glatte Haare hatten.«
»Dabei sind die Locken doch schön! Wenn ich dein Haar hätte, würde ich sofort Paul Duvoisin nachstellen!«
»Oh, das sind aber wahrlich hohe Ziele!«
»Vermutlich müsste ich um die Taille herum noch ein bisschen abnehmen«, meinte Gwendolyn und sah verdrossen an ihrer plumpen Figur hinunter. »Aber dann … dann könnte mich nichts mehr aufhalten!« Trotz Charmaines Kopfschütteln fuhr sie fort: »Wenn du ihn gesehen hättest, wüsstest du, wovon ich rede.«
»Aber ich habe ihn gesehen, und ich weiß genau, was du meinst.«
»Ist das wahr?« Vor Aufregung sprang Gwendolyn vom Bett. »Wann denn? Und wo?«
»Gleich bei unserer Ankunft. Auf dem Schiff.«
»Oh … Ist er denn nicht der aufregendste Mann, dem du je begegnet bist?«, fragte sie träumerisch. »Ich könnte jedes Mal ohnmächtig umsinken, wenn er in meine Richtung schaut. Aber leider übersieht er mich immer.« Sie zog eine Schnute, bis ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf schoss. »Mit deiner Figur und deinen Haaren hätte ich allerdings wirklich eine Chance. Eine echte Chance.«
»Und worauf, wenn ich fragen darf?«
»Auf einen Heiratsantrag, natürlich! Den nehme ich natürlich an, bevor er seine Meinung ändert!«
Angesichts dieses jugendlichen Ungestüms musste Charmaine lächeln, aber ihre Freundin plapperte munter weiter.
»Ich weiß, dass das alles nur ein romantischer Traum ist. Aber sieh dich an, du hast alles, wonach Männer Ausschau halten. Besonders eine hübsche Figur und wundervolles Haar.«
»Es tut mir leid, aber in diesem Fall bist du auf dem Holzweg. Ich habe mein Haar genauso getragen, als ich Mr. Duvoisin zum ersten Mal begegnet bin, doch er wollte mir nicht einmal vorgestellt werden.«
»Dann war er sicher beschäftigt«, meinte Gwendolyn. »Wenn ein Schiff einläuft, denkt er nur an Arbeit und Geschäft. Aber warte nur, bis du erst unter seinem Dach lebst. Wenn du ihn jeden Tag siehst oder sogar mit ihm am Tisch sitzt. Angeblich kann sich doch alles ändern, oder nicht? Alle Mädchen auf der Insel werden neidisch sein, weil du die einmalige Chance hast, nach der wir uns alle sehnen! Es wäre doch gelacht, wenn er dich dann nicht wahrnähme!«
Paul Duvoisins Haus … unter einem Dach leben … zusammen mit ihm am Tisch sitzen … ihn jeden Tag sehen! In diesem Augenblick wurde Charmaine die ganze Tragweite klar. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht, dass Paul Duvoisin auf Charmantes lebte? Es war schließlich sein Zuhause! Mit einem Mal war ihr schwindlig. Widerstrebende Gefühle stürmten auf sie ein: Ängstlichkeit und Sorge und zugleich eine
Weitere Kostenlose Bücher