Im Sommer der Sturme
Schlimmeres.«
»Aber doch nur in der Nacht, Charmaine, oder an den Wochenenden. Außerdem haben weder die Sträflinge noch die freien Sklaven Zutritt.«
»Freie Sklaven?« Mit diesem Ausdruck konnte Charmaine nichts anfangen. Auf den Straßen hatte sie zwar einige Schwarze gesehen, die sich offenbar frei bewegen durften, doch in Richmond waren solche Bilder fremd.
»Die Inseln in diesem Teil des Westindischen Archipels stehen alle unter britischer Verwaltung«, erklärte Gwendolyn, während sie langsam den Rückweg einschlugen. »Vor ein paar Jahren wurde die Sklaverei nicht nur in England, sondern auch auf den Inseln abgeschafft.«
»Ich dachte eigentlich, dass die Insel Frederic Duvoisin gehört und er sie auch verwaltet.«
»Das stimmt«, versicherte Gwendolyn. »Aber mein Vater sagt, dass Mr. Duvoisin darauf bedacht ist, es sich nicht mit den Briten zu verderben. Schließlich geht der größte Teil seines Zuckers nach England. Außerdem genießt er britischen Schutz gegen Piratenüberfälle – und zwar auf hoher See und hier auf Charmantes. Seine Waren wären sicher nicht so begehrt, wenn die Briten befürchten müssten, dass sie mit Sklavenarbeit erwirtschaftet und bezahlt wurden.«
»Also bemüht er sich um Frieden.«
»Und keineswegs nur mit der britischen Monarchie. Auch seine Frau lehnt die Sklaverei ab.«
»Wirklich?« Charmaine war überrascht. Für sie war Sklavenarbeit das Natürlichste auf der Welt, da sie damit aufgewachsen war.
Gwendolyn erzählte lang und breit von einem Schwarzen mit Namen Nicholas, der mit Prügeln bestraft werden sollte. Offenbar war Colette Duvoisin dem Mann zu Hilfe geeilt, was üblen Klatsch zur Folge hatte, bis Frederic Duvoisin der Sache ein Ende machte, indem er ein Exempel statuierte und zwei Inselbewohner, die in die Sache verwickelt waren, von der Insel verwies. Es gab auch Gerüchte über einen Mord, und Gwendolyn war nicht davon abzubringen, dass die Sache noch immer tabu war und die Menschen nur aus Angst den Mund hielten. Nicht lange nach diesem Vorfall wurden alle Schwarzen freigelassen.
»Wenn du nicht ins Dulcie’s willst, wie wäre es dann mit einem Besuch im Hafen?«, fragte Gwendolyn.
Charmaine sah Gwendolyn fragend an, doch im nächsten Moment wurde sie bereits über den Plankenweg da vongezogen. Als sie sich dem Hafen näherten und sie endlich Gwendolyns Absicht durchschaute, entwand sie sich ihrem Griff. Das Mädchen wollte Paul Duvoisin nachspionieren. Gwendolyn rannte trotz ihrer Pfunde leichtfüßig weiter bis zum Kai, wo die Raven noch immer vertäut war.
»Gwendolyn, nein«, rief Charmaine. »Wir haben hier nichts verloren!«
Das Mädchen kicherte und hielt kurz inne, um zu Atem zu kommen. »Sei doch nicht dumm! Er sieht uns sowieso nicht. Das kann ich dir versprechen. Jedenfalls hat er das bisher noch nie getan!«
»Bisher? Soll das heißen, dass du schon öfter hier warst?«
Gwendolyn nickte eifrig. Obgleich Charmaine den Kopf schüttelte, sah sie, dass sie inmitten des Trubels gar nicht bemerkt wurden. Schließlich fanden sie in einiger Entfernung vom Schiff zwischen einem großen Lagerhaus und einem leeren Geräteschuppen eine Art Versteck, von wo aus sie die Schauerleute beim Entladen beobachten konnten. Stapel von Fässern und Kisten verbargen sie vor den Blicken der Männer, während sie gleichzeitig begierig durch jeden Spalt spähten, um Paul Duvoisin irgendwo zu entdecken.
»Das war eine dumme Idee«, flüsterte Charmaine. »Was soll ich machen, wenn er mich trotzdem entdeckt?«
»Das passiert schon nicht. Je öfter du ihn siehst, desto schneller gewöhnst du dich an seinen Anblick. Dann sind die ersten Tage in seinem Haus auch nicht so schwer.«
Eine Serie lautstarker Flüche machten ihrem Geflüster ein Ende. »Allmächtiger! Doch nicht so! Genau anders herum!«
Keine fünfzehn Fuß von ihnen entfernt, neben einigen schrägen Planken, stand ein ungepflegt aussehender Mann mit finsterer Miene und kaute mit gelblichen Zähnen auf einigen Tabakblättern herum. »Verdammt! Ich habe doch gesagt, du sollst es anders herumrollen!« Er schleuderte das Tau zur Seite, das er gerade um ein dickes Eichenfass winden wollte, und deutete auf einen Jungen von vielleicht zwölf Jahren. »Stell dich dort drüben hin, verdammt! Ich drücke das Fass zur Seite, und du schiebst die Doppelschlinge darunter. Dann können wir es nach oben hieven.«
Der Junge, der sich mit der Schulter gegen das quer daliegende Fass stemmte, rührte sich nicht.
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