Im Sommer der Sturme
Duvoisin den Namen hörte, richtete er sich auf. Seine Aufmerksamkeit war augenblicklich geweckt. Seltsam – ein hübsches Mädchen: wehende Locken, ein nettes Gesicht und eine kurvenreiche Figur. Wie kam sie auf die Raven ? Er schluckte. Er hatte sie noch nie gesehen. »Ist das die hübsche Nichte, die Sie mir schon die ganze Zeit über vorenthalten, Jonah?«
»Sie wissen doch genau, dass ich keine Verwandten habe, Paul.«
»Das behaupten Sie jedes Mal!« Paul lachte, auch wenn ihm die Antwort nicht gefiel.
Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, doch noch bevor er die nächste Frage stellen konnte, kam der Kabinenboy herein. Ungeduldig griff Paul nach den Schriftstücken und fing sofort an zu lesen.
Diese Missachtung ärgerte Charmaine zwar, aber trotzdem dankte sie dem Kapitän für seine Gastfreundschaft. Er wiederum küsste ihr die Hand und wünschte ihr alles Gute. Mit einem letzten Blick in Richtung Schreibtisch verließ Charmaine wortlos die Kabine.
Inzwischen hatte sich die Hitze merklich gesteigert. Sie hob den Koffer hoch und steuerte auf die Gangway zu, wo die Harringtons sicherlich bereits warteten.
Mr. Harrington erspähte sie schon von weitem. Er kehrte an Bord zurück, nahm ihr den Koffer ab und fasste sie am Ellenbogen. Kurz darauf hatte Charmaine wieder festen Boden unter den Füßen, und doch schwankte sie, als ob sie sich noch immer auf dem Schiff befände.
»Du bist also Charmaine«, sagte Caroline, nachdem sie einander vorgestellt worden waren, und ihr Mann lächelte erfreut. »Du bist genauso hübsch, wie meine Schwester dich beschrieben hat.«
»Ich fürchte, Mrs. Harrington hat übertrieben.«
»Unsinn«, versicherte die rundliche Frau. »Du bist ja beinahe so schön wie meine Gwendolyn.«
Carolines Mann räusperte sich, doch sie brachte ihn mit einem kühlen Blick zum Schweigen.
Charmaine war froh, als sie endlich in den Wagen der Brownings steigen konnte. »Ist es hier immer so heiß?«, fragte sie und betupfte ihre Brauen.
»Eigentlich geht immer eine leichte Brise«, antwortete Mr. Browning. »Und mit der Zeit gewöhnt man sich an die Hitze.«
»Schwerlich, wenn man das Haar offen trägt«, bemerkte Caroline.
Charmaine hob die Haare im Nacken an. »Ich wollte sie eigentlich zu einem Knoten aufstecken …«
»Es ist hübsch, so wie es ist«, fiel ihr Loretta ins Wort und drückte ihre Hand.
Caroline Browning reckte die Nase in die Luft, doch im nächsten Moment wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Straße zu. »Sieh nur – dort drüben!«, rief sie und wies quer über das Durcheinander. Gleichzeitig bedeutete sie ihrer Schwester, sich zu ihr herüberzubeugen. »Das ist das Dulcie’s! Oh, dort wird so einiges geboten! Aber Männer sind nun einmal Männer. Habe ich recht, Harold?«
»Woher soll ich das wissen«, murmelte dieser und hielt den Blick auf seinen Schoß gerichtet.
»Was hast du gesagt?«
Diesmal sagte er es laut und deutlich. »Ich sagte, dass nur du das weißt.«
Misstrauisch beäugte sie ihn, aber als die Häuser an ihnen vorbeizogen, vergaß sie die Sache rasch. »Dort drüben ist der große Laden, wo man alles bekommt, was man zum Leben braucht. Das Angebot kann sich durchaus mit größeren Läden in den Staaten messen. Doch an den Wochenenden kann man dort nicht hingehen, denn dann bekommen die Sträflinge ihre Löhne und kaufen ein. Da sind wirklich ekelhafte Gesellen darunter!«
»Aber Caroline«, widersprach ihr Mann entrüstet. »Die meisten sind anständige Leute.«
»Wie kannst du so etwas nur sagen?« Sie war mindestens so entrüstet wie ihr Mann. »Das sind allesamt Mörder – und sonst gar nichts.«
»Sie sind keine Mörder, und das weißt du genau. Sonst dürften sie gar nicht hier arbeiten. Die meisten sind arme Schlucker, die wegen einer Bagatelle hier gelandet sind.«
»Oh, sei doch nicht so verbohrt«, schimpfte sie. »Es sind ganz gewöhnliche Verbrecher. Warum nimmst du sie nur ständig in Schutz?«
»Ich kenne die Männer, oder hast du vergessen, dass ich die Arbeit der meisten beaufsichtige?«
»Psst«, zischte sie, denn ihre Scham war noch größer als ihre Entrüstung. »Muss denn jedermann erfahren, dass du dich mit diesen Leuten abgibst?«
»Ich verberge nicht, womit ich auf der Insel mein Brot verdiene«, entgegnete er hastig. »Erst recht lüge ich nicht, wie du das tust.«
»Harry, bitte!«, sagte sie nervös. »Doch nicht vor der ganzen Familie!«
Sie starrte aus dem Fenster – und schon ging das Klagen weiter. »Sieh
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