Im Sommer der Sturme
Butler sie bereits erwartet, denn die Türflügel öffneten sich wie von Geisterhand, bevor sie überhaupt klopfen konnten. »Wenn Sie bitte eintreten wollen. Ich werde Miss Colette Ihre Ankunft sofort melden.«
Über das geräumige Foyer mit Marmorfliesen und einer großen Standuhr spannte sich eine Decke mit geschnitzten Verzierungen, an der ein üppiger Kronleuchter hing. Gegenüber der Eingangstür öffnete sich ein weitläufiges Treppenhaus. Ein verziertes Eisengeländer begleitete die geschwungenen Stufen bis hin zu einem breiten Treppenabsatz, über dem das überlebensgroße Porträt einer jun-gen Frau die Blicke auf sich zog. An dieser Stelle teilte sich die Treppe und führte zu den jeweiligen Seitenflügeln empor. Die Wände wurden von bodentiefen Fenstern eingenommen, die den Schein der Nachmittagssonne einfingen und die staunenden Besucher in goldenes Licht tauchten.
Der Butler führte die Gäste in den nördlichen Flügel bis in die Bibliothek und forderte sie auf, es sich bequem zu machen. Drei der Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, und ein großer Schreibtisch, ein Sofa und einige Sessel bildeten die Mitte des Raums. Es herrschte dämmriges Licht, das aber nicht unangenehm war, denn durch die offen stehenden Fenstertüren wehte die kühle Brise des Ozeans herein.
Loretta sank in einen Lehnstuhl. »Etwas einschüchternd, nicht wahr?«
»Fürwahr«, murmelte Charmaine, während sie Lorettas Beispiel folgte.
»Hast du das Bild im Foyer gesehen?«, fragte Loretta. »Wer diese hübsche junge Dame wohl ist?«
»Das ist Miss Colette«, erklärte Harold Browning.
Loretta lächelte. »Dann wissen wir ja jetzt, warum Mr. Duvoisin sie geheiratet hat, nicht wahr, Charmaine? Ich sehe keinen Grund, warum ich sie nicht von deiner Eignung überzeugen könnte.«
Charmaine war verblüfft. »Und wie kommen Sie darauf?«
»Hast du dir denn nicht ihr Gesicht angesehen?«
»Dazu war ich viel zu aufgeregt!«
Lorettas Lächeln vertiefte sich. »So etwas sieht man auf den ersten Blick. Wenn der Maler sein Modell richtig erfasst hat, und dessen bin ich sicher, so ist Mrs. Duvoisin eine warmherzige und liebenswerte Person, die genau diese Eigenschaften sofort in dir entdecken wird. Ich vermute, dass sie bei unserer Abfahrt heute Abend mehr als zufrieden sein wird. Es gibt sicher nicht viele Bewerberinnen, die so umsichtig und dabei so jung und lebensfroh sind wie du.«
Als Charmaine antworten wollte, öffnete sich die Tür, und die Frau auf dem Porträt betrat, gefolgt von Paul Duvoisin, die Bibliothek. Der Inbegriff der Weiblichkeit, gefolgt von schroffer Männlichkeit. Colette und Paul Duvoisin, Stiefmutter und Stiefsohn – ein faszinierendes Bild, das jedermann in seinen Bann schlug. Die beiden waren ungefähr gleich alt und wirkten eher wie ein Paar, das auch der Gesellschaft in Richmond zur Ehre gereicht hätte. Doch ihre Verbindung war weit komplizierter. Dann richteten sich die Blicke aller auf die Tür, aber Frederic Duvoisin blieb dem Treffen fern.
Colette beendete die erwartungsvolle Stille mit einem freundlichen »Guten Tag« mit hinreißendem französischen Akzent und lud ihre Gäste in den Wohnraum ein, in dem es sehr viel heller war. Dieser Raum öffnete sich mit zwei großen Fenstertüren auf die weite Rasenfläche auf der Vorderseite des Hauses. Einige Sofas, Lehnsessel und kleine Tischchen gruppierten sich um einen kunstvoll gewirkten Orientteppich und den mächtigen Kamin, der in einem Haus in der Karibik etwas fehl am Platz zu sein schien. Die Wand über dem Sims wurde von dem Bild eines Mannes eingenommen, auf dessen Knien ein kleiner Junge saß. Ein zweiter Junge stand neben dem Sessel. Charmaines Blicke wurden jedoch magisch von einem großen Piano aus poliertem Ebenholz angezogen, das zwischen den beiden Türen stand, die in die Bibliothek und ins Foyer führten.
Nachdem Harold Browning die Anwesenden miteinander bekannt gemacht hatte, bat Colette ihre Besucher, sich zu setzen. Sie trug ein schlichtes blassblaues Kleid, das ihr ausgezeichnet stand, und hatte das helle Haar, das ihr Gesicht umrahmte, im Nacken zusammengefasst. Ihre fas zinierenden eisblauen Augen, die schmale, gerade Nase und volle Lippen rundeten das Bild ab. Doch es war ihr Lächeln, das die feinen Züge belebte und, wie Loretta vorausgesagt hatte, ihren Besuchern die erste Befangenheit nahm. Allen – bis auf Charmaine.
Colette Duvoisin hielt die Hände im Schoß gefaltet und sah ihre Gäste aufmerksam an. Paul
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