Im Sommer der Sturme
»scheint mir Miss Ryan allerdings durchaus geeignet – und für eine weniger anstrengende obendrein, als ständig hinter drei Kindern herzulaufen, die sie Tag und Nacht auf Trab halten. Als Hausmädchen, zum Beispiel?«
»Ich fühle mich stark genug, vielen Dank, Mr. Duvoisin, und ich bin durchaus in der Lage, hinter drei kleinen Kin dern herzurennen«, erklärte Charmaine unwirsch. »Vor meiner Tätigkeit bei den Harringtons habe ich die Waisenkinder von St. Jude betreut. Und zwar bestens. Ich habe sehr gern mit ihnen gespielt. Schließlich war ich meiner eigenen Kindheit gerade erst entwachsen.«
»Das ist völlig richtig«, pflichtete Colette ihr bei. »Ich suche ja auch mehr als nur eine Gouvernante für meine Kinder. Wie Agatha bereits angedeutet hat, steht es mit meiner Gesundheit nicht immer zum Besten. Wenn ich mich nicht wohlfühle, will ich meine Kinder in guten Händen wissen, die mehr für sie tun als sie nur zu unterrichten. Die Gouvernante, die ich mir vorstelle, muss tatkräftig, liebevoll, mitfühlend und vor allem bereit sein, sich auf alles einzulassen, was Kindern so einfällt. Meine Kinder sollen frei aufwachsen. Ich will, dass sie reiten lernen und im Ozean schwimmen, und ich will, dass sie tanzen – und leben! Sie sollen nicht Tag für Tag ins Kinderzimmer verbannt sein und nie die wunderbare Luft von Charmantes genießen. Wir leben in einem Paradies, und ich möchte, dass meine Kinder das spüren – dass sie mit gesundem Körper und gesundem Geist hier aufwachsen und glücklich sind! Hat das jedermann im Raum gehört?«
Dies war eine rhetorische Frage, die sich an keinen der Anwesenden im Besonderen richtete, sondern alle betraf. Einen Augenblick lang herrschte Stille.
»Da das nun ein für allemal geklärt ist«, fuhr Colette fort, »möchte ich Miss Ryan nun noch ein paar weitere Fragen stellen. Ihre Familie …« Als ob sie die schwierigen Gewässer ahnte, hielt sie einen Augenblick lang inne. »Bisher haben Sie Ihre Familie noch nicht erwähnt. Darf ich fragen, warum Mr. und Mrs. Harrington Sie hierher begleitet haben?«
Charmaine senkte den Kopf. Trotz der vielen Übungen war die Erinnerung noch immer schmerzlich. »Meine Mutter ist im vergangenen Jahr gestorben, und mein Vater hat uns schon vor langer Zeit verlassen. Ich weiß nicht, wo er ist.« Als sie Colette ansah, schimmerten Tränen in ihren Augen. »Wenn ich die Harringtons nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre. Sie haben sich um mich gekümmert und sind jetzt meine Familie.«
Sehr gut , dachte Loretta, ehrlich und kein Wort zu viel . Ein Blick auf Colette genügte ihr, und sie wusste, dass Charmaine das Herz dieser Frau berührt hatte.
»Das tut mir sehr leid«, murmelte Colette und schwieg einen Moment betroffen. Dann ergriff sie erneut das Wort. »Ich möchte gern, dass meine Kinder Sie kennenlernen. Das ist ein wesentlicher Punkt meiner Entscheidung, wenn Sie das verstehen, Miss Ryan?«
»Bitte, nennen Sie mich doch Charmaine. Aber natürlich verstehe ich das. Ich möchte die Kinder ebenfalls gern sehen.«
Agatha stand auf. »Soll Rose sie herunterbringen?«
Colette nickte, und die ältere Frau verließ den Raum.
»Rose Richards oder Nana Rose, wie die Kinder sie nennen, ist eine ganz besondere Kinderfrau«, erklärte Colette. »Sie steht bereits seit fast sechzig Jahren im Dienst der Duvoisins und hat nicht nur Paul und John, sondern zuvor auch schon ihren Vater Frederic großgezogen. Ihr Mann, Professor Harold Richards, hat zwei Generationen junger Duvoisins unterrichtet. Rose ist eine Seele von Mensch«, fuhr Colette fort, »doch allmählich machen sich die Jahre bemerkbar. Und mit drei kleinen Kindern Schritt zu halten ist ihr immer weniger möglich.
Aber nun will ich mit Ihnen über meine Kinder reden. Die beiden Mädchen sind die Älteren und werden Ende des Monats acht Jahre. Obgleich sie eineiige Zwillinge sind, sind sie vom Wesen her so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie auseinanderzuhalten dürfte Ihnen also nicht allzu schwerfallen. Yvette ist ein wenig vorlaut, und im Gegensatz zu ihr wirkt Jeannette eher still und schüchtern. Mein Sohn ist zweieinhalb, was üblicherweise ein schwieriges Alter ist. Aber nicht so bei Pierre. Er ist ein äußerst liebenswertes Kind und mein ganzes Glück.«
Im selben Moment öffnete sich die Tür, und ein hübsches Mädchen mit blassblauen Augen betrat den Raum. Das helle Haar war erst zur Hälfte geflochten, aber das schien sie nicht
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