Im Sommer der Sturme
nicht mehr da war, um sie zu beschützen? Wenn Agatha eine mächtigere Position im Haus der Duvoisins erreichte, würden ihre Kinder darunter leiden. Colette betete zu Gott, dass sie sich irrte, aber die Antwort wollte sie nicht abwarten. Um Charmaine nicht den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, hatte sie Paul das Versprechen abgenommen, die junge Gouvernante zu respektieren. Vielleicht würde er ja eines Tages ihr wunderbares Wesen entdecken. Nun gut! Colette seufzte und schloss endlich ihre Augen. Bevor Agatha sich daran gewöhnen konnte, neben Paul zu sitzen, gab es von morgen an eine neue Sitzordnung an Colettes Tisch. Sollte Agatha ruhig wütend werden.
6
Freitag, 16. Dezember 1836
An diesem Freitag wurde Charmaine neunzehn Jahre alt, aber niemand im Haus wusste davon.
Sobald sie angekleidet war, ging sie ins Schlafzim mer der Kinder. Die Mädchen schliefen noch, doch Pierre schien ihr Kommen gespürt zu haben. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und streckte die Ärmchen nach ihr aus. Und sie liebkoste ihn, wie sie das jeden Morgen tat. Inzwischen war ihr Pierre wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen, und er erwiderte ihre Gefühle und ertrug durch dieses feste Band die häufige Abwesenheit seiner Mutter ein wenig besser.
Mit Colettes Gesundheit ging es bergab. Robert Blackford hatte seine Bücher und Fachzeitschriften zu Rate gezogen und Colette eine stärkere Arznei verschrieben. Im Lauf des Oktober hatte sich das Befinden seiner Patientin ständig gebessert, und nach Dr. Blackfords samstäglichen Besuchen hatte sie sich sehr stark gefühlt. Im letzten Monat hatte sich jedoch die Müdigkeit des letzten Sommers wieder eingestellt. Charmaine beobachtete, dass Colettes Wangen gegen das Wochenende hin immer bleicher wurden und ihre Kräfte merklich nachließen. Außerdem klagte sie häufig über Kopfschmerzen und Schwindel, sodass sie den Samstag und eine weitere Dosis ihrer Arznei kaum erwarten konnte. Oft musste sie sogar die Freitage mit den Kindern ausfallen lassen, weil sie zu krank war.
Umso überraschter war Charmaine, als Colette an diesem Freitagmorgen ins Kinderzimmer kam und versicherte, dass sie sich stark wie ein Baum fühle. »Ich denke, dass mir der gestrige Besuch des Arztes gutgetan hat. So ungern ich es zugebe, aber vielleicht sollte ich wirklich einem zweiten Besuch pro Woche zustimmen.«
Wenn die Erfolge doch nur anhielten , dachte Charmaine und lächelte der Freundin aufmunternd zu. Während der letzten beiden Monte waren sie einander so na-he gekommen, dass sie sich ein Leben ohne Colette gar nicht mehr vorstellen konnte. Das ähnliche Alter hatte sicher großen Anteil daran, aber darüber hinaus verband die beiden Frauen eine unausgesprochene tiefe Sympathie.
»Guten Morgen, mein kleiner Pierre.«
Der Kleine streckte seiner Mutter die Ärmchen entgegen, und als sie sich auf dem Bett niedergelassen hatte, setzte Charmaine ihr den Jungen auf den Schoß. »Mama, ich hatte Sehnsucht nach dir!«
Colette lachte leise. »Aber wann denn? Du hast doch geschlafen, mon caillou .«
»Ich habe geträumt. Du warst weit weg, und ich habe gerufen«, antwortete er ernst. »Ich hatte Angst.«
»Du lieber Himmel«, sagte Colette und tat besorgt. »Was ist dann passiert?«
»Ich konnte dich zwischen den vielen Leuten nicht finden. Jemand hat mich gerufen, aber ich hatte Angst und bin weggerannt.« Plötzlich glättete sich seine sorgenvolle Miene, und er strahlte. »Aber ich habe dich gefunden.«
»Und wo war ich?«
»Im Himmel«, verkündete er glücklich. »Dort war es schön.«
Charmaine überlief eine Gänsehaut, aber Colette ließ das unberührt. Sie drückte den Kleinen an sich und lachte. »Oh, Pierre! Irgendwann sind wir alle im Himmel. Zusammen mit all denen, die wir lieben. Der Himmel ist ein wunderbarer Ort.«
Als die Kinder angezogen waren, gingen sie zum Frühstück hinunter. Paul saß noch am Tisch, was sehr ungewöhnlich war. Normalerweise war er längst unterwegs, bevor sie die Augen öffneten, und er kam für gewöhnlich nicht vor dem Abend zurück.
Auf Colettes Bitte hin setzte sich Charmaine direkt neben Paul. Vor zwei Monaten hatte sie sich zum ersten Mal zögernd auf den neuen Platz gesetzt. Doch sie hatte den ersten Tag heil überstanden und ebenso den nächsten. Heute konnte sie sagen, dass es eine Freude war, neben Paul zu sitzen. Seit ihrer gemeinsamen Fahrt in die Stadt benahm er sich wie ein Gentleman. Und auch wenn sie ab und zu seinen abschätzenden Blick
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