Im Sommer der Sturme
Vater erörtert hatte.
Charmaine sah Colette an. Obwohl sie die perfekte Gastgeberin spielte, schien sie innerlich erregt zu sein. Zuerst dachte Charmaine, dass Pierre schuld sei, weil er nur mit seinem Essen spielte. Doch dann fiel ihr Blick auf George, und sie entdeckte denselben Ausdruck auch bei ihm. George tat ihr leid, weil er Agathas Tadel nicht verdient hatte.
Um ihn ein wenig aufzuheitern, unterhielt sie sich mit ihm und freute sich, als er irgendwann spitzbübisch grinste. Sie lachten gemeinsam über seine geflüsterten Bemerkungen. »Ich denke, dass Agatha und Stephen ein gutes Paar abgäben. Er sieht aus wie ein stolzer Gockel. Vielleicht würde er sich gern von einer Glucke zu Tode picken lassen.«
Die Fröhlichkeit am Ende der Tafel störte Paul. Er warf George einen ärgerlichen Blick zu, aber der neigte sich gerade zu Charmaine und bemerkte es nicht. Charmaine dagegen nahm seinen Blick wahr und richtete sich auf. Auf ihre Reaktion hin drehte auch George sich um und sah Pauls Blick.
Als die stumme Botschaft endlich angekommen war, wandte Paul sich wieder an Stephen Westphal. »Sagen Sie, Stephen, haben Sie Neuigkeiten von Anne?«
Der Mann schluckte, dann tupfte er seine Lippen mit der Serviette ab. »Ja, natürlich. Sie ist guter Stimmung und hat inzwischen die Witwenkleider abgelegt.«
»Anne London ist Stephens Tochter«, erläuterte Paul für alle, die es hören wollten. »Sie lebt in Richmond und ist vor kurzem verwitwet – im vergangenen Jahr, soviel ich weiß?«
Der Bankier blickte in die Runde und wurde zusehends redseliger. »Letztes Jahr im Mai. Anfangs war sie sehr verzweifelt, aber zum Glück hat ihr Charles, Gott schenke seiner Seele Frieden, ein kleines Vermögen hinterlassen, wofür sie ihm sehr dankbar ist. Inzwischen geht sie auch schon wieder unter Menschen. Ich habe ihr natürlich zur Vorsicht geraten, falls ihr jemand den Hof macht. Sie sollte darauf gefasst sein, dass es die meisten nur auf ihr Geld abgesehen haben.
»Wetten, dass«, murmelte George und entlockte Charmaine ein Kichern.
Paul warf ihnen erneut einen finsteren Blick zu.
Charmaine errötete, und Yvette fragte: »Was ist daran so lustig?« Sie war erleichtert, als Agatha sich einmischte.
»Und hat Ihre Tochter inzwischen einen Verehrer, Stephen?«
»Ich sollte es eigentlich nicht verraten.« Er lachte ein wenig, als er von einem zum anderen sah und sein Blick schließlich bei Paul hängenblieb. »Aber in ihrem letzten Brief schreibt sie, dass Ihr Bruder ihr den Hof macht.«
Paul war überrascht. »John? John macht Anne den Hof?«
»So schreibt sie.«
»Johnny?«, fragte Yvette. »Kennt Ihre Tochter meinen großen Bruder?«
Als Stephen antworten wollte, fiel ihm Agatha ins Wort. »Kinder soll man sehen, aber nicht hören. Dies ist eine Unterhaltung der Erwachsenen, junge Lady.«
Colette riss die Geduld. »Agatha, wie du weißt, bin ich Yvettes Mutter – und ich ermahne sie, wenn ich das für nötig halte.« Dann wandte sie sich an Stephen. »Mr. Westphal, bitte beantworten Sie die Frage meiner Tochter.«
»Ja.« Der Mann räusperte sich, da ihm die Situation zu peinlich war. »Meine Tochter kennt deinen großen Bruder. Sie schreibt sehr nett von ihm. Vielleicht wird sie ja eines Tages deine Schwägerin.«
Colettes Lächeln reichte nicht bis in ihre Augen. »Sagen Sie, Mr. Westphal, hatten Ihre Tochter und Ihr verstorbener Schwiegersohn Kinder?«
»Nein, Madame.« Mr. Westphal war überrascht. »Im Grunde wollte Anne keine Kinder, und ich denke, das war letzten Endes gut so. Warum fragen Sie?«
»Das ist mir nur so eingefallen.« Sie trank einen Schluck Wein. Dabei wanderte ihr Blick zu Paul, der sie kurz ansah, bevor er sich wieder seinem Teller zuwandte.
Die restliche Mahlzeit verlief ohne Zwischenfälle. Als Charmaine sich sehr viel später am Abend zurückzog, dachte sie nicht länger an Stephen Westphal, Anne London oder Agatha Ward, sondern an die Harringtons, an George und an Paul. In der ersten Nacht im neuen Bett würde sie wunderbar träumen, denn die Kissen waren weich, die Matratze war breit und die Decke in der kühlen Nachtluft angenehm warm. Sie überwand sich und ließ sogar die französischen Türen offen, bevor sie einschief.
Paul und Agatha begleiteten Stephen noch zu seinem Wagen und stiegen dann die Treppen zu ihren jeweiligen Räumen empor, während Colette und George noch im Wohnraum saßen. »Ich muss mit dir reden«, sagte Colette, als George sich ebenfalls zurückziehen
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