Im Sommer der Sturme
sehe und höre.«
»Ich sagte bereits, dass ich das nicht diskutieren möchte!«
Colette seufzte, verfolgte die Sache aber nicht weiter.
Yvette beeilte sich mit dem Frühstück und lief los, um sofort einen neuen Brief zu schreiben.
»Aber du hast Unterricht«, rief ihre Mutter ihr nach.
Im Lauf der Zeit hatte sich eine gewisse Routine eingestellt. Nach dem Frühstück kehrten die Kinder ins Spielzimmer zurück, wo zwei Stunden lang gelesen und gerechnet wurde. Oder sie beschäftigten sich mit Erdkunde oder der Weltgeschichte. Wenn Paul oder Frederic da waren, wurden sie über die neuesten Schiffe, die im Hafen ankerten, und ihre Routen befragt. Nach dem Mittagessen hatten die Mädchen Klavierstunden, während Pierre sein Schläfchen hielt. Meistens hörte Colette ihren Töchtern zu und freute sich über ihre Fortschritte, oder sie zog sich in ihre Räume zurück, um ein wenig zu ruhen. Der späte Nachmittag wurde für gewöhnlich im Freien verbracht. Inzwischen war der regnerische Herbst vorüber und das Wetter wunderschön. Die Luft war zwar kühler als im Sommer, doch mit den Wintern in Virginia ließ sich dieser Winter nicht vergleichen. Da die Kinder in der Obhut ihrer Gouvernante bestens aufgehoben waren, hatte Nana Rose mehr Zeit für sich selbst. Auch wenn Charmaine mit den Mädchen in die Stadt fuhr oder ein Picknick plante und Pierre zu Hause blieb, war auf die alte Kinderfrau Verlass. Und das erst recht, wenn Colette einmal unpässlich war.
Charmaine erhob sich. Paul hatte kein Wort mehr gesagt und blätterte in einer Zeitschrift, die zusammen mit den Briefen gekommen war. »Vielen Dank«, sagte sie leise.
Es dauerte einen Moment, bevor er den Kopf hob und begriff, dass sie etwas gesagt hatte. »Verzeihung?« Er war ernst, aber die Wut schien verraucht.
»Ich habe mich für den Brief meiner Freunde bedankt.«
»Gern geschehen, Charmaine. Ich hoffe, es geht allen gut?«
»Das werde ich in wenigen Minuten wissen. Wie viel schulde ich Ihnen für das Porto?«
»Nichts.« Er lächelte. »Das wird vom Inselkonto be zahlt.«
»Sicher?«
»Aber ja.«
Sie bekräftigte ihren Dank mit einem Nicken und rief mit klopfendem Herzen nach Jeannette. »Komm, meine Süße, es ist Zeit für den Unterricht.«
Jeannette nahm ihren Brief und folgte Charmaine. Hinter Colettes Stuhl blieb sie stehen, als ob sie etwas vergessen hätte. Dann schlang sie ihrer Mutter die Arme um den Hals und krönte die Geste mit einem Kuss.
Überrascht lachte Colette. »Und womit habe ich das verdient.«
»Das ist auch ein Geheimnis«, flüsterte Jeannette und stürzte auf ihren kleinen Bruder.
Der wehrte sich, bis Colette ihn mit tränenerstickter Stimme ermahnte: »Deine Schwester will dir doch nur einen Kuss geben.« Als sie Pierre aus dem Stühlchen half, war der Moment schnell vorüber. »Bitte, sprich mit deinem Vater nicht über John. Es regt ihn zu sehr auf.«
Paul runzelte die Stirn. »Aber das alles hängt mit ihm zusammen! Ich kann doch nicht so tun, als ob er nicht existiert – jedenfalls nicht, solange er von Richmond aus unsere Geschäfte kontrolliert.«
Jedes weitere Wort war umsonst. Colette nahm Pierre an der Hand und folgte Charmaine und Jeannette.
Später, als die Mädchen arbeiteten und Pierre mit den Klötzchen spielte, fand Charmaine Zeit zum Nachdenken. John Duvoisin . Sobald sein Name fiel, gerieten die Gefühle in Wallung. Die Männer der Familie sprachen von ihm wie von einem Gegner, aber die Frauen schienen in ihm nur den Erben des Hauses zu sehen. Ob sie ihn wohl einmal kennenlernen würde, um sich eine eigene Meinung bilden zu können?
»Mademoiselle Charmaine?«, fragte Jeannette mitten in ihre Gedanken hinein. »Sie haben Ihren Brief noch gar nicht gelesen. Sehen Sie, er liegt hier unter meinen Sachen.«
Charmaine war beschämt. Fast einen Monat lang hatte sie sich über die verspätete Post beklagt – doch nun, da sie den Brief in Händen hielt, träumte sie von jemandem, den sie nicht einmal kannte! Leise lachend öffnete sie das Siegel, und dann erfuhr sie zu ihrer Freude, dass es dem Clan der Harringtons bestens ging. Der Brief war ein Geschenk zu ihrem Geburtstag, und sie nahm sich vor, ihn gleich heute Abend zu beantworten.
Als Paul die Räume seines Vaters betrat, nickte er Travis zu, damit er sie allein ließ. Frederic Duvoisin saß in dem Sessel und starrte durch die französischen Türen über die Wiese hinweg bis zu dem kleinen Kiefernwald, der den Privatsee der Familie umgab.
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