Im Sommer der Sturme
bemerkte, so hatte er sie doch kein einziges Mal mehr in Verlegenheit gebracht. Sie fühlte sich so geborgen, wie er es versprochen hatte. Seine Annäherungsversuche waren Vergangenheit, und inzwischen konnte Charmaine sogar, ohne zu erröten, einen ganzen Abend in Pauls Gesellschaft verbringen. Colette freute sich über die wachsende »Freundschaft« zwischen den beiden, und Charmaine fragte sich zuweilen, ob ihre Freundin die Kupplerin spielen wollte.
»Was hat dich denn so lange aufgehalten?«, fragte Colette, während sie Pierre in sein Stühlchen half.
»Ich war zeitig in der Stadt und bin schon wieder zurück. Ich muss etwas Wichtiges mit Vater besprechen.«
Seine Stimme klang hart. Er schien wütend zu sein. Seine Finger trommelten auf einen Stapel Briefe, die neben seinem Teller lagen. Charmaine fragte sich, ob diese für seinen Ärger verantwortlich waren.
»Ist etwas passiert?«, fragte Colette besorgt.
»Es geht um meinen Bruder.«
Yvette spitzte die Ohren. »Um Johnny? Hat er dir geschrieben?«
»Das kann man wohl sagen.« Paul blätterte durch den Stapel und zog zwei Umschläge hervor. »Hier, für Yvette und für Jeannette. Wenigstens ihr sollt heute eure Freude haben.«
»Von Johnny?«, fragte Jeannette und strahlte von einem Ohr zum anderen, als sie die Post entgegennahm.
»Weshalb bekommt sie auch einen Brief?«, schmollte Yvette. »Schließlich habe ich ihm geschrieben!«
»Aber, aber, Yvette. Nur kein Neid«, mahnte Colette. »Das ist nicht gut. Außerdem hast du ja auch einen Brief bekommen. Liest du ihn uns vor?«
Das Mädchen rümpfte die Nase. »Ein Brief ist Privatsache. Deshalb wollte ich ja lesen und schreiben lernen. Erinnerst du dich? Damit Johnny mir schreiben kann.«
»Also gut«, erwiderte Colette. »Vielleicht ist Jeannette ja so nett?«
Die Kleine überlegte eine ganze Weile. »Nein, Mama«, flüsterte sie, »mein Brief ist auch geheim.«
Da Colette bei den Zwillingen nicht weiterkam, wandte sie sich an Paul. »Was hat John dieses Mal angestellt?«
Paul schwieg. Wenn Charmaine es nicht besser gewusst hätte, hätte sie annehmen können, dass das Thema damit ausgestanden sei. Doch sie hatte gelernt, in seiner Miene zu lesen. Er war noch genauso wütend wie zuvor und sah so finster drein wie damals, als er mit Jessie Rowlan, dem Hafenarbeiter, gestritten hatte.
Colette butterte einen Toast und gab ihn ihrem Sohn. »Langsam, langsam, mon caillou «, flüsterte sie, als er ihn gierig verschlang. »Mach nicht so große Bissen, damit du dich nicht verschluckst.« Pierre wollte etwas sagen, aber sein Mund war so voll, dass man ihn nicht verstehen konnte. Lächelnd schüttelte Colette den Kopf.
Dann sah sie wieder zu Paul hinüber. Offenbar konnte sie das Thema nicht auf sich beruhen lassen. »Nun?«
»John hat die Schiffsrouten geändert«, antwortete er knapp. Mit diesen Worten schob er den Stapel wieder auseinander und zog einen Brief hervor, der an Charmaine adressiert war. »Deswegen ist so lange keine Post ge kommen.« Er klopfte auf den Umschlag, bevor er ihn ihr hinschob. »Früher kamen die Schiffe aus Virginia auf direktem Weg nach Charmantes. Doch nach Johns Plänen segeln sie in Zukunft zuerst nach Europa und kommen erst auf dem langen Rückweg nach Virginia hier vorbei. In Zukunft müssen wir also entsprechend lange auf Post und Versorgungsgüter warten.«
»Und warum?«, fragte Charmaine.
»John stiftet gern Unruhe.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Colette.
»Ach ja?«, fuhr Paul sie unbeherrscht an.
Charmaine war verblüfft. So hatte Paul noch nie mit Colette gesprochen.
Aber Colette blieb ruhig. »Wenn John diese Änderungen vorgenommen hat, so hatte er sicher Gründe.«
»Warum verteidigst du ihn immer?«, brummte Paul, was Charmaine verblüffend an Frederics Frage beim Geburtstag der Mädchen erinnerte.
»Ich verteidige ihn nicht«, wandte Colette diplomatisch ein. »Ich stelle nur etwas fest. John ist der Erbe des Familienvermögens. Warum sollte er genau das aufs Spiel setzen und Routen einführen, die den Unternehmungen der Duvoisins schaden?«
Ihre Logik ärgerte Paul. »Für seine Winkelzüge bist du offenbar blind. Damit erübrigt sich jede weitere Diskussion.«
»Aber Paul. John und du – ihr wart euch immer so nah.« Sie ließ sich auch durch seine wütenden Blicke nicht einschüchtern. »Warum entzweit ihr euch wegen organisatorischer Probleme? Wenn ich an euch drei, George eingeschlossen, denke, dann kann ich nicht glauben, was ich
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