Im Sommer der Sturme
und blickte von der Höhe der Veranda aus über die weiten Wiesen. Kaum zwei Jahre zuvor war er noch ein armer Kerl gewesen, aber er hatte sich nach oben gekämpft. Und er wollte mehr. Irgendwann würde er sein Glück machen und sich auch ein solch prachtvolles Haus bauen. Meiner Schwester würde es hier gefallen. Eines Tages … In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Butler bat ihn herein.
George saß vor seinem Teller und aß. Er bedeutete Wade, sich ihm gegenüber an den Tisch zu setzen, und bat Fatima um eine weitere Portion. Während sie aßen, rätselte Wade noch immer, was genau ihm diese zweite Einladung verschafft hatte. Zum ersten Mal war er vor ein paar Monaten hier gewesen – und zwar war er als Dank für sein beherztes Eingreifen in der Sägemühle zum Lunch ins Herrenhaus eingeladen worden.
In den neunzehn Jahren seines Lebens war Wade noch nie bei einem Notfall in Panik geraten. Ebenso wenig fürchtete er sich, seinen Mund aufzumachen. Diese Eigenschaften und seine Entschlossenheit, hart zu arbeiten, hatten ihm Paul Duvoisins Hochachtung eingetragen. Als sich der Vormann der Sägemühle Anfang November den Arm bis auf den Knochen aufgeschlitzt hatte und fast verblutet wäre, hatte Wade ihm eine Aderpresse angelegt und einen Mann nach dem Doktor geschickt. Nachdem er einen weiteren Mann beauftragt hatte, Paul oder George zu verständigen, kehrte er an die Arbeit zurück. Als die Mannschaft murrte, sagte er nur, dass ein bisschen Blut kein Grund sei, die Produktion stillzulegen, und machte unbeirrt weiter. Keine fünf Minuten später waren auch die anderen wieder an der Arbeit. Alles in allem war nicht nur ein Menschenleben, sondern obendrein auch noch die Produktion des Sägewerks gerettet worden. Und Paul war sehr zufrieden gewesen.
Doch im Augenblick war Wade verunsichert, weil er nicht wusste, was ihn erwartete. Er wusste nur, dass Paul die Insel verlassen hatte und George alle Verantwortung auf seinen Schultern trug. Seine Unsicherheit steigerte sich noch, als kurz darauf Harold Browning eintrat und man ihm ebenfalls einen Teller vorsetzte.
»Ich habe ein Problem«, sagte George nach einer Weile. »Ich muss für ein paar Wochen verreisen. Aber das geht nur, wenn ich auf Sie beide bauen kann, dass Sie mich bis zu meiner Rückkehr vertreten. Oder bis zu Pauls Rückkehr, mit der ich schon in den nächsten Tagen rechne.«
Harold war ein wenig verwirrt. »Darf ich fragen, wohin die Reise geht?«
»Nach Virginia«, antwortete George einsilbig, um keine weiteren Fragen aufkommen zu lassen. »Kann ich mich darauf verlassen, dass in der Sägemühle alles nach Plan läuft, Wade? Sie haben mich auch schon früher vertreten, doch dieses Mal müssen Sie die Verantwortung für vierzehn Tage oder vielleicht sogar für länger übernehmen.«
»Solange die Männer wissen, wer der Boss ist, sehe ich darin kein Problem.«
»Ich werde gleich morgen früh mit ihnen reden.« Dann wandte sich George an Harold. »Auf Sie wartet die größere Aufgabe, weil Sie sowohl die Zucker- als auch die Tabakarbeiter beaufsichtigen müssen. Jake und Buck können sich um den Hafen kümmern, die Ernte einlagern und die Schiffe be- und entladen, die den Hafen anlaufen. Mit etwas Glück wird Paul mit einem der ersten Schiffe aus Europa hier ankommen und kann dann wieder übernehmen.«
»Weiß Frederic, dass Sie die Insel verlassen?«, fragte Harold.
George lehnte sich zurück. »Er wird rechtzeitig davon erfahren«, antwortete er vage und war froh, als Charmaine und die Kinder den Raum betraten.
»Hallo, George«, begrüßte sie ihn mit strahlendem Lächeln. Sie konnte an den Fingern abzählen, wie oft sie ihn seit Pauls Abreise vor drei Monaten gesehen hatte, und war sichtlich erfreut. »Das ist ja eine Überraschung.«
Bevor George etwas erwidern konnte, bemerkte sie die anderen Männer, die bei ihrem Eintritt aufgesprungen waren. Sie begrüßte Harold Browning mit einem Nicken. An den Namen des jüngeren Mannes neben ihm konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber sie wusste noch, dass er im Herbst einmal mit ihnen gespeist hatte. Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel, und sein gutes Aussehen rief ihr sofort wieder Colettes bewundernde Worte ins Gedächtnis, als der junge Mann damals das Haus verlassen hatte. Groß und schlank und ein glatt rasiertes Gesicht, dazu eine breite Nase, volle Lippen und ein Lächeln in den dunklen Augen, die genau dieselbe Farbe wie sein kurz geschorenes Haar
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