Im Sommer sterben (German Edition)
bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Sie rief nochmals bei FOLIOS an. Diesmal klappte es. Eine halbe Stunde später verließ sie die Redaktion in Richtung Limmatquai.
»Du warst doch heute auch bei der Pressekonferenz?«
»Klar.« Marianne Felber gab sich trotz der Hitze cool und fingerte nervös am Zellophan ihrer Zigarettenschachtel.
Sie saßen an der Limmat im Avalon, unter einem billigen Sonnenschirm, und warteten auf Prosecco und Wasser. Schräg gegenüber lag die Frauenbadi. Halb nackte Körper reihten sich wie Brathühner dicht aneinander auf den verblichenen Holzbrettern der Badeanstalt in der prallen Sonne. Es war eine Affenhitze, und Marianne hätte sich gerne noch geduscht. Überhaupt hätte sie sich lieber zum Abendessen verabredet, aber Hannes musste um sieben weg.
Hannes war stellvertretender Chefredaktor von FOLIOS und sofort bereit, sie zu treffen. Er hatte einiges über die Sniper-Szene in der Schublade, wie er sagte, und mit dem Mord auf dem Golfplatz würde das alles brandaktuell werden. Eine heiße Geschichte eben.
Als Wochenblatt könne er schon mit der Tagespresse zusammenarbeiten, das beiße sich nicht unbedingt. Ihn interessierten mehr die Hintergründe.
Marianne war froh darüber. Sie kannte es anders. In Deutschland hatte sie Kollegen, die weniger offen und hilfsbereit gewesen wären. Journalismus ist ein Haifischbecken; jeder zerrt an denselben Fleischbrocken. Sie dachte an Andrea und an Ralph und daran, dass sie auch lieber für ein Wochenblatt geschrieben hätte. Tagesjournalismus lag ihr nicht besonders.
Sie zündete sich eine Zigarette an, als der Kellner ihr den Prosecco und für Hannes eine Flasche Evian und ein Glas hinstellte.
»Das sind totale Spinner.« Hannes trank einen kräftigen Schluck Wasser. »Ich konnte mal mit einem sprechen. In einem abgelegenen Tal im Bündnerland haben wir uns getroffen.«
»Und?« Marianne nippte an ihrem Glas und versuchte einen nicht allzu neugierigen Eindruck zu machen.
»Die geben sich alle Decknamen. Der Typ, den ich getroffen habe, hieß Snoopy, wie der Hund von den Peanuts . Er ist zweiunddreißig, wohnt im Kanton Graubünden, ist Beamter von Beruf und Wachtmeister in der Schweizer Armee. Wenn er im Schützenstand die jährliche obligatorische Bundesübung schießt, dann holt er immer die Anerkennungskarte – mit maximal einem oder seltener zwei Verlustpunkten.«
»Mit was für einem Gewehr schießen die denn?«
»Das Obligatorische natürlich mit dem Sturmgewehr der Schweizer Armee …«, sagte Hannes. Er war nicht sicher, ob Marianne als Deutsche das wusste. In der Schweiz hatte fast jeder diese Knarre bei sich zu Hause.
Marianne wusste es nicht. Ralph war Amerikaner und somit in der Schweiz nicht dienstpflichtig.
»… sonst hat er eine Blaser Tactical R93, Kaliber .308.«
»Aha«, kam es von Marianne, der das alles nichts sagte. »Warum Snoopy?«
»Sie haben Angst, ihre wahre Identität preiszugeben. In Deutschland ist das Schießen mit Zielfernrohr – ZF im Jargon – gang und gäbe; hier in der Schweiz ist es verpönt.«
»Wieso? Gerade hier, wo doch jeder, wie du sagtest, eine Knarre zu Hause hat?«
»Weiß auch nicht. Hier gibt es Combat-Schützen, Luftgewehrschützen, Armbrustschützen und Vorderladerschützen, die mit Schwarzpulver hantieren. Aber keine Gruppe wird so verfemt, keine so schief angesehen wie die Präzisionsschützen.«
»Und wie weit kann er mit so einem Blaser-Dings mit ZF schießen?«
»Damit kann er …« Hannes sah sich um, deutete dann hinüber zur Frauenbadi. »Damit schießt er einer Fliege dort drüben ins Arschloch.«
Marianne hatte sich verschluckt und hustete. »Komm, erzähl keinen Scheiß.«
Hannes lachte, nahm die Sonnenbrille ab und wischte sich mit einem alten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.
Sie sah zum ersten Mal seine Augen. Zwei dünne Schlitze, hinter denen die Pupillen, wie die eines Reptils, zwischen fleischigen Lidern und Tränensäcken eingeklemmt waren.
»Die Weite allein spielt keine Rolle.« Hannes war klar geworden, dass Marianne von Schusswaffen nichts verstand. »Wichtig ist Weite in Verbindung mit Präzision. Langdistanzschützen zielen bis zu tausend Meter weit. Achthundert Meter weit entfernte Ziele, Jockey-Scheiben, die bei Einschüssen fallen, sind üblich. Als Meisterleistung gilt das Treffen eines Fünf-Franken-Stücks auf dreihundert Meter.«
»Also doch fast …« Marianne formte mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis, etwa in der Größe
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