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Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition)

Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition)

Titel: Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Woodrell
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in den frühen Morgenstunden den Kühlschrank zu plündern, aber es hatte ein Fenster zur Straße hinaus, und bald wurde es zu ihrem Hobby, sich eifrig dem Ausblick zu widmen. Gretel teilte das Zimmer mit Lori, einer älteren Frau von zweiundzwanzig, die unten im Südteil der Stadt herumgegammelt war. So wie die Betten aufgestellt waren, hatte Gretel den Ausblick ganz für sich.
    Drei Häuser waren stets zu sehen, und wenn sie den Hals verrenkte, um das Blickfeld zu erweitern, wurden zwei weitere Häuser und eine Autowerkstatt sichtbar. Die Männer in diesen Häusern schienen eine ähnliche Art Leben zu führen wie das, von dem Zodiac und Delirium Gretel erzählt hatten. Diese Männer gingen morgens frisch rasiert und in properer Kleidung weg, aber kamen zur Abendbrotszeit mit schlaffen Klamotten und ausgemergelten Gesichtern marode von irgendeinem seelenlosen Job nach Hause. Zwei der Männer hatten fast immer Sechserpacks Bier dabei, um den Abend totzuschlagen. Von den dazugehörigen Ehefrauen ging haargenau die Hälfte ebenfalls zur Arbeit, während die andere das Haus hütete. So viele Kinder rannten auf den lädierten Rasenflächen umher, dass sie nicht wusste, welche zu welchem Haus gehörten.
    Die Weise, wie diese Leute lebten, war echt irre. Sie waren derart unter der Fuchtel der Gesellschaft, dass sie wahrscheinlich schon selbst glaubten, es ginge ihnen gut. Würde Zodiac sie verspotten, wenn er hier wäre? Ganz sicher würde er seinen grauen Pferdeschwanz vor ihrer Nase wedeln und sie ankläffen. Er würde kläffen und grinsen und einen Song über ihren Tretmühlentrott singen, so laut er konnte, und vielleicht auch noch auf den Kofferraumhauben ihrer Autos den Todestanz der Pawnee tanzen. Zodiac verbrachte seine Tage damit, zu tun, wonach ihm war, und die einzige Fuchtel, unter die er je geriet, war die von Mutter Natur, was zeitweise ziemlich grausam sein konnte, womit er trotzdem aber gut auskam. Das Gewächs, um dessen Erntereife er sich kümmerte, war eine Afghanen-Abart namens Razorback Red, die er seit Jahren auf Regierungsland anbaute, ein bescheidender Bestand aus fünfundzwanzig Pflanzen, die im Mark Twain National Forest ins Kraut schossen. Um die Arbeiten, die im und ums Haus anfielen, kümmerten sich gewöhnlich Gretel und Delirium. Delirium gärtnerte und nähte den Tag über, und wenn die Dunkelheit hereinbrach, widmete sie sich ihrer Poesie, die sich ausschließlich mit ihrer Kindheit in Tarrytown, New York, beschäftigte. Die Gedichte, von denen sich einige reimten, andere nicht, legten dar, wie diese Kindheit in privilegierten Verhältnissen sie veranlasst hatte, sich abzuwenden vom vordergründigen Drang, zu besitzen und zu zerstören, und sich hinzuwenden zu jenem geheimen Teil ihrer Person, den die Gesellschaft am liebsten ausmerzen würde, jenem Teil, der sich am besten nackt ausdrücken ließ, unter den funkelnden Sternen, mit einem Joint in der Hand und einem Lachen der Freiheit, das von ihren Lippen perlte.
    Wenn die Dunkelheit sich über diese Straße senkte, umzingelten die Menschen in allen fünf Häusern die Fernsehapparate. Sie kamen nicht wieder hervor, bis ihre Wecker sie dazu zwangen.
    Irre. Aber interessant.
    Gretel saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, ließ ihre Poren atmen und beobachtete die Straße, als Tip ganz langsam in seinem großen alten Benzinfresser vorbeischaukelte. Sie rollte sich vorsichtig vom Bett und ging den Flur hinunter ins Badezimmer. Sie drehte den Hahn auf und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Dann schlüpfte sie in ein grünes Kleid, bürstete sich die Haare und ging ins Vorderzimmer. Alle anderen Mädchen waren dort versammelt, ignorierten das Comedy-Programm in der Glotze und rissen ihre Witze über Toms Kind.
    »Toms Kind ist putzmunter heute Abend«, sagte Lori.
    »Toms Kind ist kerngesund«, sagte Carol.
    »Und so verdammt süß!«, meinte Dorothy.
    Die vier kicherten, wälzten ihre hochschwangeren Leiber auf den weichen Lagerstätten. Diese Toms-Kind-Geschichte war ihr Standardscherz, ein Witz, der nur was für ledige Mütter war. Alle Mädchen hatten es irgendwann satt gehabt zu erklären, wer wahrscheinlich oder hoffentlich oder vielleicht der Vater ihres Babys sei, und nach ein paar Blödeleien hatte Carol hochtrabend behauptet, der Mann, der für ihren Zustand verantwortlich wäre, sei kein anderer als Tom Cruise, der knackigste Typ im gesamten Universum, und nach einem Augenblick verblüfften Schweigens hatte Gretel eingestimmt:

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