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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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sie nicht planen, sie nicht sehen kann. Ich bin in dieser verwirrenden Gegenwart gefangen, ebenso wie Kat im Gestern feststeckt. Sie sieht mich nicht. Sie sieht nur mein
früheres Ich, als ich krank war. Ich bin ihr eine Last, jemand, den sie pflegen muss wie ein Kind. Ständig schimpft sie mich aus und sagt mir, was ich zu tun habe. Ich habe Angst, dass sich meine Liebe für sie verflüchtigt hat.
    Ich starrte auf das Papier. Ich habe Angst, dass sich meine Liebe für sie verflüchtigt hat . Dann drehte ich das Blatt um und suchte nach einem Hinweis, wann Ezra diese Zeilen geschrieben haben mochte, fand jedoch nichts. Ein Vogel, gefangen in einem gläsernen Käfig, der mit den Flügeln gegen die Wände schlägt . Dieses Gefühl konnte ich gut nachvollziehen, da mir tagtäglich ein Bild durch den Kopf schoss, während jeder ruhigen Minute: Ich saß auf einem Trapez inmitten vollkommener Leere. Überall um mich herum herrschte absolute Finsternis, und ich musste irgendwie einen Weg finden, das Gleichgewicht auf der Schaukel zu halten, um nicht ins Nichts zu stürzen.
    »Was ist das, Mommy?«, fragte Jeremy und zerrte an Ezras Zettel.
    »Nichts, Liebling.«
    »Ist das ein Brief von Daddy?«
    »Ja, er ist von Daddy.«
    Ich faltete das Blatt Papier und schob es in meine Hosentasche, bevor ich die Kiste zusammen mit der Babyschüssel zum Pick-up trug. Jeremy folgte mir wie ein Schatten. »Was gibt’s?«, erkundigte sich Ezra. Er hatte die von mir ausgesuchten Kisten in den Wagen geladen, da das Feuer nun keine zwei Meilen mehr entfernt war. Der Evakuierungsbefehl konnte uns jederzeit treffen.
    Ich stand einen Moment mit der Kiste in Händen da und starrte zu Judes Haus auf der anderen Seite des Feldes.
»Nichts.« Ich stellte die Kiste ab, konnte mich jedoch nicht von der Schüssel trennen. »Ich bringe Jeremy rein. Zeit für einen kleinen Snack.«
    Jeremy streckte Ezra die Muttertagskarte entgegen, um sie ihm zu zeigen. »So sehr liebe ich dich!«, sagte er.
    Im Haus streifte ich mir die Sandalen ab und stellte das Schüsselchen auf den Tisch. Meine Mutter nahm es sofort in die Hand. »Du hast es gefunden!«, rief sie.
    Ich ging zur Küchenzeile und schnitt einen Apfel für Jeremy in Stücke. »Ich wollte nicht, dass es noch mal in all den Kisten verloren geht.«
    »Das war das Erste, was ich für dich gekauft habe.« Sie drehte das Schüsselchen und bewunderte die gemalten Figuren am Rand. »Ich wollte dich so sehr. Ich sehnte mich fast schmerzlich nach dir, noch bevor ich mit Sicherheit sagen konnte, dass ich schwanger war.«
    Ich kannte diesen Schmerz. Ich hatte ihn in meinem Innersten gespürt, noch bevor Jeremy überhaupt gezeugt war. Und genau dieses Stechen hatte gleich nach Ezras Schlaganfall eingesetzt, im Krankenhaus. Eine Sehnsucht, die ich in einer solchen Intensität nie zuvor verspürt hatte, ein Verlangen, mit Ezra zusammen zu sein, ein neues Leben mit ihm zu erschaffen. Der Duft eines Kindes bauschte sich vor mir auf, wie ein Laken, das an einem Märznachmittag über eine Wäscheleine geworfen wird. Der Geruch nach Pfirsich, Waschmittel und warmen Sonnenstrahlen. Eine flüchtige Erinnerung, als hätte ich etwas in einem Café vergessen, einen Handschuh oder eine Sonnenbrille. Nein, etwas viel Wertvolleres: den Ehering meiner Großmutter, weggeworfen im zerknüllten Papierhandtuch im Abfalleimer der Damentoilette.
    »Ist bei dir alles in Ordnung, Liebes?«, fragte meine Mutter.

    Ich rieb mir die Augen und betrachtete Ezra durchs Fenster. »Ich bekomm einfach nicht genug Schlaf.«
    Ich reichte Jeremy den Teller mit den Apfelschnitzen. »Ich sollte nachschauen, ob Val eine Pause braucht«, sagte ich und leistete meiner Schwester im Zimmer meines Vaters Gesellschaft. Mein Vater schlief ruhig weiter, während Val ihn zur Seite rollte, um ihm eine neue Windelhose unters Gesäß zu schieben und ihn sauberzuwischen. Ich hatte Ezras Windelhosen während seines Aufenthalts im Krankenhaus auf die gleiche Art gewechselt. Sein feuchter, schlaffer Penis, der an seinem Oberschenkel herabhing, der Geruch nach Urin.
    »Dad atmet sehr flach«, sagte ich.
    »Das war zu erwarten.«
    »Ist er aufgewacht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Er wird ab jetzt noch mehr schlafen, und wenn er aufwacht, wird er oft verwirrt sein. Es wird Zeiten geben, in denen er dich nicht erkennt, Kat. Darauf solltest du gefasst sein.«
    Ich drehte mich zum Fenster und gewährte ihm ein wenig Privatsphäre, während Val das Wickeln beendete. Als sie

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