Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
einfach nicht zu bewegen und zu warten, bis sich die Umstände geändert hatten oder zumindest etwas günstiger geworden waren. Er konnte hier ziemlich lange ausharren, vorausgesetzt, er hielt seine beiden Gefangenen unter Kontrolle. Es gab ein gut bestücktes Tiefkühlfach im Eisschrank und ganze Stapel von Dosen mit Fertiggerichten in einem Regal. Unerwünschter Besuch stand nicht zu erwarten. Er war hinaufgegangen in Harrys Schlafzimmer, wo sich auch dessen Schreibtisch befand, und hatte den ominösen Terminkalender in Augenschein genommen. Nichts, niemand, die ganze Woche über, und auch kein Eintrag für die nächste. Am heutigen Dienstag war ein V. notiert, dahinter: 10 Uhr. Ansonsten gähnende Leere.
Das V., Vivian, stellte natürlich ein Risiko dar. Irgendjemand würde sie irgendwann vermissen. Zum Glück hatte sie offenbar keinem ihrer Arbeitskollegen Bescheid gesagt, dass sie zu Harry wollte, wie sie selbst verkündet hatte. Aber natürlich gab es auch ein Privatleben. Von Nora wusste Ryan, dass Vivian etwas unstet war, was Männerbeziehungen anging, nun aber schon seit einigen Wochen mit einem Freund fest zusammenlebte. Diesem würde die Sache recht bald seltsam vorkommen.
Auf dem Schreibtisch fand Ryan auch Harrys Pass, und damit begann der Gedanke in ihm zu keimen, der sich langsam zu einem Plan entwickelte. Wenn er das Land verlassen wollte, brauchte er Papiere und eine neue Identität. Als Ryan Lee durfte er sich an keiner Grenze blicken lassen, aber als Harry Vince sah die Sache anders aus.
Er nahm den Pass mit hinunter in die Küche und studierte das Foto. Harry trug darauf einen Bart und sehr kurze Haare. Er war ein Jahr jünger als Ryan, also fast gleichaltrig, das war kein Problem. Ähnlich sahen sie einander nicht, absolut nicht, eine Tatsache, die Ryan unter normalen Umständen sehr begrüßt hätte. Andererseits war das Bild ziemlich alt, der Pass würde Ende des Jahres ablaufen. Auch der echte Harry sah inzwischen ziemlich verändert aus. Aber würde man ihm, Ryan, abnehmen, der Mann auf dem Bild zu sein? So oder so musste er etwas mit seinem Aussehen machen, schließlich wurde überall nach ihm gefahndet. Wenn er sich die Haare kurz schor und einen Bart wachsen ließ? Dabei würde ihm zugutekommen, dass er nicht Hals über Kopf aufbrechen musste. Er konnte noch ein paar Tage verstreichen lassen und sich in Ruhe mit seiner Typveränderung beschäftigen. Er würde England durch den Eurotunnel verlassen, das erschien ihm am sichersten. Die Kontrollen an den Flughäfen bargen viel zu hohe Risiken, und auf einem Schiff musste er sich unter andere Reisende mischen, was ebenfalls nicht ratsam war. Im Zug unter dem Meer konnte er in seinem Auto – in Harrys Auto, das er sich zu diesem Zweck aneignen würde – sitzen bleiben. Ryan war Mitte der neunziger Jahre einmal mit seiner Mutter auf diesem Weg nach Frankreich gereist, um Ferien an der Atlantikküste zu verbringen, daher kannte er sich aus. Er entsann sich des großen Ansturms von Reisenden auf die Züge und der eher oberflächlichen Passkontrollen. Das Ganze kostete eine Stange Geld, aber natürlich würde er sich großzügig an Harrys Erbschaft bedienen – er zweifelte nicht daran, dass Harry ihm seine Geheimzahl verraten und damit sein Konto zugänglich machen würde, wenn er ihn ein wenig unter Druck setzte. Da er nicht wollte, dass seine Gefangenen elend starben – um Gottes willen, nicht noch einmal ein solches Drama! –, würde er, kaum drüben in Calais angekommen, einen anonymen Anruf bei der Polizei tätigen, Harrys Adresse nennen und darauf hinweisen, dass dort zwei Menschen auf ihre Befreiung hofften. Danach war Harrys Pass natürlich nichts mehr wert. Auch das Auto musste er loswerden. Wie es dann weitergehen sollte, wusste er noch nicht, aber er hoffte, dass sich ein Weg auftun würde. Er würde doppelt auf der Flucht sein: vor der Polizei, denn sie würden natürlich Interpol auf ihn ansetzen. Und vor Damons Leuten. Wenn er darüber genauer nachdacht e, wurde ihm flau im Magen, daher schob er diese Gedanken erst einmal zur Seite. Er musste Ruhe bewahren.
Das Handy in Vivians Handtasche, die noch immer auf der Treppe stand, klingelte mehrmals am frühen Nachmittag. Ryan hütete sich natürlich, die Anrufe entgegenzunehmen, aber er hörte hinterher die Mailbox ab, um zu erfahren, ob jemand wusste, wo sie sich aufhielt. Doch offenbar hatte er in diesem Punkt Glück. Der erste Anrufer war ein Friseursalon in Pembroke, wo man
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