Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
morgens nicht mehr joggen gegangen, sondern im Bett liegen geblieben und hatte die Decke über den Kopf gezogen. Sie hatte es gehasst, den Männern den Kaffee hinüberzubringen. Sie hatte es gehasst, über das Wasser zu starren und zu warten, dass Ken nach Hause kam. Weder seinen Geruch nach Holz und Leim noch die Farbspritzer auf seinem Hemd hatte sie noch ertragen können. Wenn er über Konstruktionsplänen brütete, war sie vor Verzweiflung die Wände hochgegangen. Wenn die Möwen schrien, hatte sie sich die Ohren zugehalten.
Ich kannte die ganze Geschichte, die die Reeces nach Swansea und Alexia auf den Sitz der Chefredakteurin von Healthcare gebracht hatte. Aber die Tragödie dahinter kapierte ich tatsächlich erst in diesem Moment: Als ich hier stand, im Grau dieses Tages, vor der toten Werft und dem aufgewühlten Wasser, und als ich Kens Augen sah und den Schmerz darin. Ich begriff, dass Alexia dies alles hier unter keinen Umständen ein fünftes Jahr lang ausgehalten hätte, aber ich begriff auch, dass sich Ken das Herz aus der Brust gerissen hatte, als er ihrem Drängen nachgab und den einzigen Ort auf der Welt verließ, an dem er leben wollte. Den Beruf verließ, für den er geboren war.
Wir gingen zu dem Schuppen hinüber. Ken rüttelte an der Tür, aber sie war fest verschlossen. Er versuchte, durch eines der Fenster hineinzuspähen, aber durch die blinden Scheiben war nichts zu erkennen.
»Was ist mit deinem Freund?«, fragte ich behutsam. »Du hattest doch einen Freund, mit dem du hier zusammengearbeitet hast und der alles übernommen hat, als du weggingst … Betreibt er die Werft auch nicht mehr?«
»Sie sind pleitegegangen«, erklärte Ken, »schon vor ein oder zwei Jahren. Keine Ahnung, ob er das Land hier verkauft hat oder ob es ihm noch gehört. Soweit ich weiß, ist er jetzt in London und arbeitet als Ingenieur in einer Schiffsbaufirma.«
»Warum hast du das eigentlich nie getan? Du hättest doch in Swansea mit Sicherheit auch eine solche Stelle gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war nicht das, was ich wollte. Außerdem kamen dann noch zwei weitere Kinder … und irgendwie musste unser Alltag organisiert werden. Alexia fiel zu hundert Prozent aus, also musste ich einspringen. Ich kam gar nicht so richtig dazu, über eigene Pläne und Möglichkeiten nachzudenken.«
Langsam bewegten wir uns in Richtung Wasser. Ken bückte sich, hob einen flachen Stein auf und warf ihn in die vom Wind aufgewühlten Fluten. Zu unseren Füßen schwappten die Wellen über ein Stück schlickbedeckten Felsen.
»Hattest du jemals Träume im Leben?«, fragte Ken. »Ich meine, Träume, die du unbedingt verwirklichen wolltest, weil du dachtest, nur dann hast du eine Chance, glücklich zu werden?«
Ich wusste, dass er an seinen Traum dachte, Schiffe zu bauen. Meine Träume waren anders gewesen, viel unsteter und weniger zielstrebig.
»Ich wollte so vieles«, sagte ich. »Ich wollte eine berühmte Schauspielerin werden. Eine große Sängerin. Ich wollte rund um die Welt trampen. Letztlich wollte ich, glaube ich, einfach nur weg von meiner Mutter. Ihrer ewig schlechten Laune, der Enge unseres Lebens, der ganzen Spießigkeit entfliehen. Vielleicht habe ich es auch deshalb nicht wirklich zu etwas gebracht.« Gedankenverloren starrte ich zum anderen Ufer hinüber, einem schmalen Sandstreifen, hinter dem sich eine grasbewachsene Anhöhe erhob. »Ich meine, vielleicht konnte ich gar keine echten Träume oder Ziele entwickeln. Weil es immer nur darum ging, so weit wie möglich von meiner Mutter wegzukommen.«
Er schaute mich an. »Das klingt traurig.«
»Hm, ja.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte um keinen Preis eine sentimentale Stimmung aufkommen lassen. »Als meine Großmutter noch lebte, habe ich manchmal mit ihr über meine Pläne gesprochen. Sie wollte, dass ich etwas Solides mache, studiere, auf eigenen Füßen stehe. In der letzten Zeit kommt sie mir öfter in den Sinn. Deshalb habe ich jetzt auch überlegt, mich an der Uni einzuschreiben. Das hätte ihr gefallen. Und eigentlich lag sie meist richtig mit ihren Ansichten.«
»Gute Idee«, sagte Ken, »das mit der Uni, meine ich.«
Wir schwiegen beide. Ken fing wieder an, Steine zu suchen und in das Wasser zu werfen. Ich dachte an meine Großmutter. Wie wichtig sie für mich war und wie sehr ich es ihr zu verdanken hatte, dass ich mich nicht nur völlig trübsinnig an meine Kindheit erinnern konnte.
Es wäre der richtige Moment gewesen, nach all
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