Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
zu erwarten. Sie weinte die meiste Zeit über, tat aber sofort alles, was er sagte, tief eingeschüchtert von dem Messer, das er noch immer an ihre Rippen hielt. So gefügig sie sich auch zeigte, sie würde doch die erste Gelegenheit zur Flucht nutzen, davon war Ryan überzeugt. Und er würde irgendwann schlafen müssen. Sie würden irgendwann eine Tankstelle brauchen. Ganz zu schweigen von Wasser oder etwas Essbarem.
Als der Tag anbrach, waren sie beide erschöpft und am Ende ihrer Kräfte, aber Ryan zwang Vivian weiterzufahren. Sie jammerte vor Durst und Müdigkeit, aber er fuhr sie an: »Hör auf zu quengeln! Du hast uns in diese Situation gebracht, mit deinem idiotischen Anruf bei der Polizei. Ich war drauf und dran abzuhauen. Ins Ausland. Ich hätte euch zurückgelassen und dann die Polizei darüber verständigt, wo sie euch finden. Euch wäre nichts passiert!«
Sie fing schon wieder an zu weinen. »Du hast eine Frau ermordet! Woher sollte ich wissen, dass du mit uns nicht auch etwas Furchtbares vorhast?«
»Das mit der Frau war ein Versehen. Ein schreckliches Unglück. Ich bin kein gewissenloser Killer!« Aber er spürte, dass er sie mit diesen Worten nicht erreichte. Für sie war er das verkörperte Böse. Und sie fragte sich wahrscheinlich die ganze Zeit voller Entsetzen, wie sie, um Himmels willen, in einem solchen Alptraum hatte landen können.
Je weiter der Vormittag voranschritt, umso mehr neigte sich die Benzinanzeige dem Ende zu. Außerdem lamentierte Vivian schon seit über einer Stunde, weil sie wieder dringend auf die Toilette musste. Er hatte das zunächst kaltherzig ignoriert – wer so skrupellos trickste wie sie, musste sich nicht wundern, wenn der andere kein Risiko mehr einging –, aber inzwischen war ein Punkt erreicht, an dem zielloses Weiterfahren nichts mehr brachte. In absehbarer Zeit würde der Motor mangels Treibstoff schlappmachen.
Sie befanden sich auf einer Landstraße in einer einsamen Gegend. Ryan vermutete, dass sie dabei waren, den BreconBeacon-Nationalpark zu umrunden, den dritten und jüngsten der drei großen walisischen Nationalparks. Das Gute war, dass er Versteckmöglichkeiten bot. Das Schlechte war, dass es ihnen nichts brachte, irgendwo unterzutauchen, weil sich die Situation nicht verbesserte und weil sie dringend Nahrung brauchten. Außerdem wurde der Park vom SAS , dem Special Air Service, zu Übungszwecken genutzt. Die Eliteeinheit der Armee wurde zur militärischen Aufklärung herangezogen, aber auch zur Terrorbekämpfung innerhalb Großbritanniens eingesetzt und hatte sich zudem einen Namen mit spektakulären Geiselbefreiungen gemacht.
Es waren weiß Gott nicht die Leute, deren Nähe Ryan ausgerechnet jetzt gesucht hätte.
Dennoch, im Moment wirkte alles menschenleer und friedlich, und Ryan dirigierte Vivian in einen schmalen Feldweg, der schon bald darauf am Gatter einer Weide endete. Sie stiegen beide aus, und an der Art, wie Vivian wild hin und her blickte, erkannte Ryan, dass sie tatsächlich zu jeder einzelnen Sekunde über Flucht nachdachte. Er durfte in seiner Wachsamkeit nicht nachlassen.
Er erlaubte ihr, sich an eine Hecke zu kauern und zu pinkeln, und zum Glück machte sie diesmal keinen Aufstand mehr, weil er dicht neben ihr stehen blieb.
»Ich habe schrecklichen Durst«, sagte sie, als sie fertig war.
»Falls du nicht zufällig einen Vorrat an Wasserflaschen in deinem Auto herumfährst, haben wir aber nichts zu trinken«, entgegnete Ryan genervt. »Also hör auf zu jammern. Setz dich wieder ans Steuer.«
Er ließ sie erneut über den Beifahrersitz auf ihren Platz rutschen und blieb dabei dicht hinter ihr, damit sie nicht plötzlich einfach ohne ihn losfahren konnte. Sie wollte den Motor starten, aber er bedeutete ihr, es zu unterlassen.
»Ich muss erst nachdenken«, sagte er.
Sie lehnte sich zurück, schloss sekundenlang die Augen. »Ryan, du kannst das hier nicht gewinnen«, sagte sie dann. »Man sucht uns. Man kennt unser Auto. Wir können nirgendwohin, wo man uns nicht finden wird. Wir brauchen Sprit. Wir brauchen Essen und Trinken. Wir haben nicht einmal Geld, geschweige denn, dass wir es riskieren können, eine Tankstelle anzusteuern oder einfach in einen Supermarkt zu schlendern. Sie werden uns schnappen. Über kurz oder lang. Es wird womöglich einen Crash mit dem Auto geben. Ryan, ich habe niemandem etwas getan. Ich will noch nicht sterben!« Sie fing wieder an zu weinen. Inzwischen waren ihre Augen völlig verschwollen von den
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