Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Wir gingen schneller, aber dafür verlief der Weg stellenweise recht steil bergauf, und wir mussten ein paarmal auf Max warten, der wegen der Wärme und seines dicken, langen Fells jetzt nicht mehr so leichtfüßig dahersprang wie zuvor. Dadurch vergingen insgesamt auch fast fünfzehn Minuten, bis wir wieder am Parkplatz waren. Ich hatte es nun selbst erlebt: Dreißig Minuten hatte es an jenem verhängnisvollen Sonntag gedauert, ehe Matthew wieder bei seinem Auto angekommen war. Dreißig Minuten, in denen er nichts von dem hatte mitbekommen können, was dort geschehen war.
Er trat an den Wagen, nahm eine Schüssel und eine Wasserflasche heraus, gab Max etwas zu trinken. Der Hund schlabberte gierig. Matthew ging zu der Sitzgruppe hinüber, setzte sich auf die Bank, starrte über das Land.
»Die Polizei hat hier alles durchkämmt«, sagte er, »die ganze Gegend. Aber nichts. Keine Spur.«
Ich setzte mich neben ihn. Meine Beine fühlten sich plötzlich ganz schwer an, aber das lag nicht am Laufen. Es war die Traurigkeit in mir, die meinen Körper zu lähmen begann, die sich als Last über mich legte. Seltsamerweise begriff ich es erst an diesem Tag, an diesem Ort, in diesen Momenten endgültig: Wir hatten keine Chance. Matthew und ich. Sein Leben war hier stehen geblieben, genau hier, an diesem einsamen Rastplatz, am Sonntag, dem 23. August 2009. Seitdem bewegte es sich nicht mehr, ließ keine Veränderungen mehr zu. Es war naiv, vielleicht sogar dumm von mir gewesen zu glauben, ich könnte eine Zukunft mit einem Mann aufbauen, der vierundvierzig Jahre alt war und aufgehört hatte, sich auch nur einen Millimeter weiter nach vorn zu bewegen.
Unsere Geschichte war zu Ende, ohne dass sie überhaupt begonnen hatte. Ich hatte mich an eine Illusion geklammert. Es war Zeit, mich von ihr zu verabschieden.
Wir saßen eine ganze Weile schweigend in der Sonne. Max lag neben uns und schlief. Nichts und niemand störte die Stille, außer ein paar frühen Bienen, die uns ein paarmal umkreisten. Schließlich sagte Matthew: »Ich gehe morgen zu einer Selbsthilfegruppe. Wir treffen uns alle sechs bis acht Wochen sonntags. Möchtest du mitkommen?«
Es gehörte nicht viel dazu, den Sinn der Gruppe zu erraten.
»Angehörige vermisster Menschen?« Ich stellte das eher fest, als dass ich es fragte.
»Ja. Es tut gut, sich auszutauschen. Man fühlt sich dort … verstanden. Man geht niemandem auf die Nerven, weil man wieder und wieder dieselbe Geschichte erzählt und um die ewig gleichen Fragen kreist. Alle tun das dort.«
Ein Ort der Stagnation. Und sosehr ich verstand, weshalb diese Menschen an ihren ungelösten Fragen festhielten, so klar wurde mir auch, dass ich dort nicht hingehörte. Ich teilte nicht ihr Schicksal, ich war keine von ihnen. Und ich konnte auch nicht länger ein Teil von Matthews Schicksal sein. Mit ihm zusammen war es fast schlimmer, als es mit Garrett gewesen war. Mit Garrett hatte ich wenigstens noch das Gefühl gehabt zu leben. Mit Matthew drohte ich zu erstarren.
»Ich möchte eigentlich nicht mitkommen«, sagte ich behutsam.
»Ich kann das verstehen«, sagte Matthew. Er war sensibel, das wusste ich, er war empfänglich für Schwingungen. Er hatte, so versunken in sich er die ganze Zeit über gewesen war, doch begriffen, was in mir vorging. Meine Traurigkeit war ihm nicht entgangen. Seine Frage Möchtest du mitkommen? hatte daher mehr gemeint als nur den Besuch der Selbsthilfegruppe am nächsten Tag, er hatte vielmehr wissen wollen, ob ich das alles weiterhin mit ihm teilen wollte. Und er verstand meine Ablehnung richtig: Auch ich meinte nicht nur den nächsten Tag.
»Ich möchte …«, begann ich, und als ich hilflos stockte, vollendete er den Satz: »… dass wir uns eine Weile nicht sehen. Ja. Das weiß ich.«
Ich streckte die Hand aus, berührte seinen Arm. »Es tut mir leid, Matthew. Es tut mir entsetzlich leid.«
Er wandte sich mir zu. Zum ersten Mal an diesem Tag sah er mich wirklich an, war er wirklich bei mir. »Es muss dir nicht leidtun. Ich kann dich absolut verstehen.«
Ich schluckte. Ich wollte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen. »Ich kann nicht immer nur mit dir zusammen nach deiner Frau suchen. Oder rätseln, was aus ihr geworden ist. Es ist … Wir kommen nicht vom Fleck. Und ich werde immer bedrückter.«
»Ich kann dich verstehen«, wiederholte er zum dritten Mal. »Ich lebe so seit Jahren. Aber das ist kein Grund, dass du auch so lebst. Ich habe mich schon gefragt, wie lange du
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