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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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sagte er und musterte Tara und den nach wie vor furchtbar aussehenden Herrn der Vögel mit unverhohlenem Misstrauen. »Wie können Sie es sich überhaupt leisten zu fliegen?«
    »Der heilige Mann –«, begann Tara, als der Herr der Vögel sie mit einem schmerzhaften Griff um den Oberarm zum Schweigen brachte.
    Kim reagierte schnell. »Das geht Sie im Grunde nichts an«, sagte er. »Aber da es kein Geheimnis ist: Ich habe meine Freunde eingeladen.« Tara begriff, dass Kim als Einziger von ihnen wirkte, als verfüge er über Geld. Seine Kleidung war teuer, zumindest in ihren Augen, und er hatte das nötige selbstbewusste Auftreten.
    Der Mann schnaubte verächtlich. »Ihre Freunde? Ein dummes Mädchen und ein schmutziger Alter? Dass ich nicht lache! Aber mir soll es egal sein. Schaffen Sie den Hund nach draußen und machen Sie, dass Sie ins Flugzeug kommen, sonst startet es ohne Sie.«
    »Sofort, mein Herr«, sagte der Herr der Vögel unterwürfig. Er schob Tara zum Ausgang und lockte den Hund. Mit ungebrochener Faszination für den heiligen Mann folgte das Tier bereitwillig. Sobald sie vor der Tür standen, bückte sich der Sadhu, strich dem Hund über den Kopf und sprach zu ihm in seiner seltsam singenden Muttersprache. Dann erhob er sich, nicht ohne Mühe. »Verabschiede dich von ihm. Er wird allein zurechtkommen müssen.«
    Tara vergrub ihr Gesicht im Fell des Hundes. Du hast mir das Leben gerettet!, schrie es in ihr, du hast mir vertraut, und nun verstoße ich dich. Jetzt weinte sie wirklich, haltlos, verzweifelt, und ihr wurde klar, dass sie nicht nur um den Hund weinte. All die zurückgehaltenen Tränen der letzten Jahre, wenn sie die Zähne zusammengebissen hatte, stark sein musste, brachen sich endlich Bahn. Der Sadhu überließ sie ihrer Trauer, doch nach einigen Minuten zog er sie sanft von dem Hund fort. »Komm«, sagte er leise. »Wir haben nur noch wenige Minuten bis zum Abflug.«
    Tara brach es das Herz, als sie sich in der Mitte der Halle ein letztes Mal umdrehte. Der Hund saß vor der Glastür und ließ sie nicht aus den Augen. Dann drehte sie sich um und ging steif auf die Tür zur Abflughalle zu. Sie wusste, dass das Bild des traurigen Hundes sie ein Leben lang verfolgen würde.
     
    Eine Stunde später hob das Flugzeug ab. Tara war vor Angst wie gelähmt. Sie hätte es sich nie träumen lassen, jemals zu fliegen, und auf diese Erfahrung gern verzichtet. Sie atmete tief durch. Sie hatte darauf bestanden, in dieses Flugzeug zu steigen, also durfte sie sich jetzt auch nicht anstellen wie ein Feigling. Tara raffte all ihren Mut zusammen und nahm ihre Hände vom Gesicht. Fassungslos starrte sie auf die weißen Gipfel und hinunter in die dunklen Täler. So mächtig waren die Berge, so riesig. Und sie nur ein winziger Mensch, unsichtbar für die Augen der Götter.
     
    Während Tara zum ersten Mal in ihrem Leben die Welt aus der Götterperspektive betrachten durfte, kam Anna beim Anblick der beiden Bergspitzen links und rechts des Thorung-La-Passes zu demselben Schluss wie die Nepalesin: Sie fühlte sich klein und unbedeutend. Annas körperlicher Zustand war ebenfalls nicht dazu angetan, ihr Selbstbewusstsein zu heben. In der vorletzten Nacht hatte ein fürchterlicher Durchfall mit Erbrechen sie alle halbe Stunde auf die wenig einladende Toilette der Herberge in Kagbeni gezwungen. Giardia, hatte Achim nach einem peinlichen Kreuzverhör bezüglich Annas Stuhlgang diagnostiziert und ihr einige Tabletten sowie grauenhaft schmeckende Elektrolytlösung eingeflößt. Die Medizin wirkte: Bereits am Abend zuvor hatte Anna wieder ein wenig Reis und Linsen zu sich nehmen können.
    Anna hob ihre Kamera und fotografierte die Berge und den Pass. Von ihrem Standpunkt auf dem Flachdach des Gasthauses aus hatte sie einen freien Blick das Seitental hinauf, und sie schauderte. Von Achim wusste sie, dass der Pass noch weitere zweieinhalb Kilometer höher lag, und er erschien ihr abweisend und unbezwingbar. Sie war froh, dass ihr Weg nicht dort hinaufführte, sondern entlang des fast ebenen Flussbetts. Zufrieden mit den Bergbildern, widmete sich Anna dem Ort. Kagbeni war sehr alt, und auf Anna wirkte es, als sei es kein Menschenwerk, sondern aus den Bergen herausgewachsen. Lediglich schmale Gassen durchschnitten die kompakte Masse der Häuser, zwei bis dreistöckige kunstlose Quader, mit schmutzig weißem oder ockerfarbenem Lehm verputzt, die Flachdächer umrahmt von Mauern aus sauber aufgestapeltem Knüppelholz. Hier und da

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