Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
hinaus, um die Toten und Verwundeten hineinzubringen. Freund und Feind arbeiteten dicht nebeneinander. Es fiel nicht ein einziges lautes Wort.
Johanna war mit Hariata in der Festung geblieben. » Haben wir gesiegt? Ziehen sie sich zurück? « , fragte sie verständnislos.
» Nein. Es gibt keinen Sieger. Die Kämpfe sind für heute zu Ende. Wir werden wohl noch eine Weile hierbleiben müssen. Es kann noch Tage dauern, vielleicht Monate. Womöglich wird Ihr Kind hier zur Welt kommen. «
» O Gott, nein! «
New Plymouth
Z wei Tage später rumpelte die Kutsche über die Straße nach New Plymouth. Die letzten Regenfälle lagen Wochen zurück, der Morast war zu steinhartem Lehm getrocknet, und die Kutsche holperte bei jeder Unebenheit.
» Du meine Güte, Liam « , kicherte Marina, als sie wieder einmal gegen ihn gestoßen wurde.
Sie saßen gemeinsam auf dem Kutschbock. Seine Verlobte hielt sich mit der einen Hand am Sitz und mit dem anderen an ihm fest.
» Ich hoffe, es wird in Küstennähe besser, sonst haben wir noch einen Achsenbruch, bevor wir ankommen. «
Als hätte eine höhere Kraft seinen Wunsch erhört, wurden die Schlaglöcher weniger. Liam lenkte den Wagen durch die kiesige Furt eines fast ausgetrockneten Bachlaufs, und dann ging es durch eine idyllische Farmlandschaft. Zu beiden Seiten erhoben sich sanfte Hügel, auf denen zahllose Schafe und auch einige Rinder grasten. Insekten summten im ausgeblichenen Gras.
» Nur noch eine Woche, Liam. Bist du wirklich sicher, dass du das tun willst? « , erkundigte sich Marina mit plötzlichem Ernst.
» Natürlich, ich habe dir mein Wort gegeben. «
» Das Wort eines Gentleman. Aber da wir einander auch versprochen haben, ehrlich zu sein, solltest du wissen, dass mein dummes Herz noch immer Frank Charlesworth hinterherhängt, auch wenn ich ihn hassen sollte, für das, was er mir angetan hat. «
» Wie auch mein Herz an jemanden vergeben ist, mit dem ich niemals zusammen sein kann. «
Liam verbot sich, an Johanna zu denken. Sie sollte ihren Frieden haben, Thomas Waters würde nicht durch seine Hand sterben. Aber er wollte auch nicht mehr, dass sein Leben von Liebe und Hass zu diesen beiden Menschen bestimmt war.
Er begegnete Marinas Blick. » Wir sind gute Freunde. Viele Eheleute teilen weniger miteinander. «
» Recht hast du « , seufzte sie.
Liam legte einen Arm um ihre Schulter, und sie kuschelte sich an ihn. Eine Weile genossen sie schweigend die Fahrt durch die sommerliche Landschaft unter einem strahlend blauen Himmel. Kleine Kanäle zogen sich überall durch die Wiesen. Vor wenigen Jahren war hier noch Moor und Sumpf gewesen, der nach und nach trockengelegt wurde. An einem Wasserlauf stakste eine Ralle entlang. Sie war wie viele Vögel dieses merkwürdigen Landes nur mit Stummelflügeln ausgestattet.
Liam ahnte, dass Marina ihm noch etwas sagen wollte, er kannte sie mittlerweile gut.
» Was ist? « , erkundigte er sich schließlich.
» Vielleicht möchte ich wieder nach England zurück. Ich habe schreckliches Heimweh, noch viel mehr, seitdem die Sache mit Frank passiert ist. «
» Marina, du weißt, ich kann hier nicht weg. Ich muss noch sieben Jahre im Exil bleiben. «
Sie nickte schnell und schüttelte seine Umarmung ab.
» Warten wir noch ein, zwei Jahre. Wenn die Leute nicht mehr reden, finden wir einen Vorwand. Dann kannst du mit dem Kind nach England zurück. «
» Wirklich? « Ihr traten Tränen in die Augen.
» Du kannst tun, was du willst, Marina. Dein Ehemann werde ich nur für andere sein. Ich bestimme nicht über dich. Und wenn du eines Tages einen Mann findest, den du liebst und der dich liebt, reichen wir die Scheidung ein. «
Im Pa von Aupikinga
A m Morgen des dritten Belagerungstages erwachte Johanna von lauten Gesängen. Es musste etwas geschehen sein. In Windeseile kleidete sie sich an und trat mit Hariata vor die Gasthütte des Häuptlings Taumaihi, in der sie übernachtet hatten.
Tamati kam aus einer anderen Hütte und gesellte sich zu ihnen. Alle Menschen im Pa waren auf den Beinen und beobachteten ehrfürchtig, wie das Haupttor der hölzernen Festung geöffnet wurde.
Taumaihi stand mit stolzgeschwellter Brust vor dem Häuptlingshaus, an seiner Seite sein Sohn Etera und die angesehensten Krieger des Dorfes.
Johanna rätselte verschlafen, was dieses Zeremoniell bedeutete, für das Taumaihi einen kostbaren Flachsumhang mit Fransen und üppigem Federbesatz trug. Um seinen Hals lag ein breiter Reif aus Knochen und
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