Im Taumel der Herzen - Roman
dass ich tatsächlich eine Geliebte hier in der Nähe habe.«
»Dann geh doch mit ihr weg!«
»Das kann ich nicht. Sie hat einen Ehemann, einen alten Knaben, der schon bald nach ihrer Heirat zum Invaliden wurde. Da sie eine liebe, gutherzige Frau ist, will sie ihn nicht im Stich lassen.«
»Du liebst sie?«
Charles’ versonnenes Lächeln machte seine Antwort eigentlich überflüssig: »Sie ist mir ans Herz gewachsen – ja, ich hänge sehr an ihr. Anfangs war es nur Sex, aber mittlerweile sind wir schon sechs Jahre zusammen. Sie ist keine Adlige, doch das ist mir egal. Ich beabsichtige, sie zu heiraten, sobald ihr Gatte das Zeitliche segnet. Ich liebe sie genug, um auf sie zu warten.«
Diese Art Liebe hatte Richard immer gesucht: eine Liebe, die von Dauer war, allen Hindernissen trotzte und auf Gegenseitigkeit beruhte. Wieder ertappte er sich dabei, wie er Julia anstarrte.
»Den anderen Grund, warum ich noch hier bin, hast du selbst gesehen«, fuhr Charles fort. »Mathew liebt seinen Großvater. Ich werde ihm nicht die Gelegenheit nehmen, zu spüren, wie es sich anfühlt, eine Familie zu haben.«
»Du wirst ihm nie erzählen, wie Milton wirklich ist, oder?«, mutmaßte Richard.
»Wahrscheinlich nicht.«
42
J ulia hatte nicht vorgehabt, ihre Schlafsachen anzuziehen, bevor sie tatsächlich bereit war, unter die Bettdecke zu schlüpfen, doch als sie an diesem Abend schließlich ihr Zimmer betrat, hatte sie nicht das Gefühl, ihre abendlichen Rituale noch ausführen zu können. Dabei verfügte sie inzwischen sogar über einen Spiegel, denn am Nachmittag war aus Manchester einer geliefert worden.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so müde gewesen zu sein. Nun holte es sie doch ein, dass sie zwei Tage hintereinander im See herumgetollt war und letzte Nacht so wenig Schlaf erwischt hatte. Außerdem war das Abendessen, das sie gerade in Gesellschaft der Allens – mit Ausnahme des Grafen – eingenommen hatte, so entspannt verlaufen, dass sie beinahe schon am Tisch eingeschlafen wäre!
Dass Milton bereits zum zweiten Mal nicht zum Abendessen erschien, hätte sie bestimmt beunruhigt, wenn Richard sich nicht bei Tisch zu ihr hinübergebeugt und geflüstert hätte: »Er besucht eine befreundete Dame.«
Das waren die einzigen privaten Worte, die sie seit dem Eintreffen seines Bruders am Morgen gewechselt hatten. Die Handwerker waren inzwischen ebenfalls eingetroffen. Julia hatte sie ins Musikzimmer geführt und den Männern ihre Renovierungswünsche erläutert. Den Rest des Tages hatten sie und Richard mit Charles und Mathew verbracht. Nach der
Schwimmstunde am See hatten sie ein paar Stunden lang auf einer der Rasenflächen neben dem Haus, wo das Gelände einigermaßen eben war, Krocket gespielt. Obwohl sie sich vorher nicht abgesprochen hatten, waren sich alle Erwachsenen einig gewesen, dass sie Mathew gewinnen lassen wollten. Julia fand das ziemlich lustig, insbesondere das Gestöhne der beiden Männer, wenn sie absichtlich danebenschossen.
Sie hatte durchaus Verständnis dafür, dass Richard den Tag mit den beiden Mitgliedern seiner Familie verbringen wollte, die er liebte. Trotzdem hoffte sie, dass dieses Bedürfnis nun gestillt war und er sich auf die Suche nach dem Vertrag konzentrieren würde. Es zehrte an ihren Nerven, dass sie sich unter einem Dach mit dem Grafen aufhalten musste, der doch so unberechenbar war. Sein heutiges Verhalten gegenüber seinem Enkelsohn hatte das ganz deutlich bewiesen! Er hatte sich benommen, als wäre er ein völlig anderer Mensch als der, der seinen Sohn auf eine Reise in die Hölle geschickt hatte. Ohne Skrupel und ohne jede Reue.
Nur wenige Minuten, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, klopfte es. Julia stöhnte auf. Sie zweifelte nicht daran, dass es sich um Richard handelte, und war nun sehr froh darüber, dass sie sich noch nicht umgezogen hatte. Obwohl sie befürchtete, er könnte trotz der Tatsache, dass der Graf gar nicht im Haus weilte, eine weitere »Liebesnacht« in seinem Zimmer vorschlagen, wurde sie bei diesem Gedanken ein wenig wacher.
Doch als sie die Tür öffnete, packte Richard sie an der Hand und zog sie den Gang hinunter. »Komm«, forderte er sie auf, »du musst für mich Schmiere stehen! Dass Vater sich erneut außer Haus aufhält, ist unsere Chance.«
Endlich! Sie war plötzlich wieder hellwach! Auf halber Höhe der Treppe blieb Richard jedoch stehen. Am Eingang zu dem kleinen Flur, der jenseits der Treppe zum Arbeitszimmer
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