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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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seit so langer Zeit erträumt. »Retter der Maya«. Nur ganz kurz noch empfand er das Falsche dieser Rolle, in die er teils gewaltsam gedrängt worden war, teils sich selbst gedrängt hatte, dann schloß er die Augen und fiel in tiefen, ohnmachtsähnlichen Schlaf.
    Wieder fuhr er mit seinem Kanu den breiten Strom hinab. Lang ausgestreckt lag er in der lauen Lache am Boden des Bootes, und vor ihm auf der Ruderbank saß die junge India, zum Greifen nah. Sie trug lediglich einen Schurz um die Hüften, ihr schwarzes Haar und die braune Haut schimmerten in den Sonnenstrahlen, die durch das grüne Gewölbe über ihnen drangen, und das Wasser des New River war beinahe so warm und so rot wie Blut.
    Behutsam richtete er sich auf, bemüht, sie nicht zu erschrecken oder gar das Kanu wieder zum Kentern zu bringen, wie es schon so oft geschehen war. Sein Herz klopfte in heißer Erregung, gleich würde er sie berühren und ihren schlanken, festen Leib zu sich heranziehen. Sie würde sich zu ihm umwenden, endlich würde er ihr Gesicht sehen, und er war ganz sicher, daß sie es sein würde, sie, Ixkukul, oder wie immer sie sich nun nannte, die junge India, die ihn hierher geleitet hatte, von Fort George nach Kantunmak.
    Tatsächlich gelang es ihm, sich in dem schwankenden Boot so weit aufzurichten, daß er nun hinter ihr kniete. Er hob eine Hand, doch dann hielt er inne, da er sah, daß sie sich einer Stromschnelle näherten. Eben noch waren sie träge dahingetrieben, schon schoß ihr Boot rasend schnell voran, das Wasser um sie herum schäumte und gurgelte, und Felsbrocken ragten tückisch aus der Flut. Die braune Gestalt vor ihm steuerte, mit beiden Händen geschickt und kraftvoll paddelnd, ihr Kanu an den Rand des Flusses, wo das Wasser ruhiger dahinfloß. Das Boot schob sich unter die dichtbelaubten Äste eines riesenhaften Baumes, die ein Gewölbe über dem Wasser bildeten. In dieser natürlichen Laube ließ sie das Kanu einige Fuß weit aufs Ufer gleiten, bis es in Schlamm und Wurzeln festsaß und sich nur noch leicht in der Strömung wiegte.
    Dann wandte sie sich zu ihm um, und Robert schrie auf, so laut, daß ihm sein eigener Schrei in den Ohren gellte. O mein Gott, laß es nicht wahr sein! Sie lächelte ihn an, schmerzlich und vorwurfsvoll, wie ihm schien. »Xantal«, sagte sie, »zu spät«, und er starrte sie an: Sie war es, kein Zweifel, die India seiner Träume, so nahe vor ihm, ihre Lippen, ihr Lächeln, ihre Mandelaugen, alles leibhaftig vor ihm, ihr schlanker, kakaobrauner Körper, ihm auf der Ruderbank zugewandt, und ihr linkes Bein war ein blutiger Stumpf, abgequetscht zwei Handbreit über dem Knie.

9
     
     
    Mit offenen Augen lag er in der Dunkelheit. Das Gewölbe war erfüllt von Modergeruch, die Fackeln erloschen, es war so finster wie in einem Grab. Sein eigener Schrei mußte ihn aufgeweckt haben, noch immer ging sein Atem keuchend, und er war über und über mit Schweiß bedeckt. Sowie er die Augen schloß, sah er sie wieder vor sich, ihr schmerzliches Lächeln, die schlanke Anmut ihres Leibes und darunter, in der Öffnung ihres Schurzes zuckend, den abgequetschten Stumpf.
    Zu seinen Seiten und in einiger Entfernung seufzten und murmelten die Gefährten im Schlaf. Er hatte keine Vorstellung, wie spät es sein mochte, ob Mitternacht oder schon gegen Morgen. Doch er spürte, daß er erst wenige Stunden geschlafen haben konnte, sein ganzer Körper summte noch immer vor Erschöpfung, und hinter seiner Stirn pochte der allzu vertraute Schmerz. Dennoch wagte er lange Zeit nicht, die Augen noch einmal zu schließen, wie in der Kindheit, wenn er schlecht geträumt hatte und die ganze Welt ringsum grauenvoll verwandelt schien. Solange ich wach bleibe, dachte er, wie damals als kleiner Knabe, ist es nicht wahr.
    Auch was er mit offenen Augen vor sich sah, war indessen wenig geeignet, seine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen. Wieder und wieder erblickte er die verstümmelten Mayajungen, die im Thronsaal Ajkinsajs plötzlich aus der Dunkelheit getaucht waren, von hundert auflodernden Fackeln angeleuchtet, wie auf einer Opernbühne, dachte er, in einer schwarzromantischen Oper namens Wirklichkeit. Im grauen Grenzland trieb er dahin, zwischen Schlaf und Wachen, und auf einmal stieg ein überwältigendes Schuldgefühl in ihm auf, so daß er sich in seiner Hängematte krümmte. Ich habe versagt, damals, in jenem Leben, dachte er, durch meine Schuld haben sie alle ihre Freiheit verloren, wurden unterjocht und getötet
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