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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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so grauenvoll verstümmelt wie die Mayajungen am Wehr von Victoria Camp. Es war nicht einfach ein Gedanke, es war unmittelbare, niederdrückende Gewißheit, die jeden verstandesmäßigen Einwand mit sich riß und in ihren Fluten ertränkte. Hätte ich damals nicht versagt, so wären sie alle, alle frei geblieben, glücklich, unversklavt. Wie in einem Ozean von Schuldgefühl trieb er dahin, ohnmächtig umhergeworfen, und nur ab und an schimmerte ihm von ferne die Ahnung entgegen, daß seine Empfindungen gänzlich unangemessen, zumindest weit übertrieben waren. Doch es gelang ihm nicht, sich dieser Ahnung zu bemächtigen, so wenig wie einem Schiffbrüchigen, der im Meer trieb und von den Wellen umhergeworfen wurde, der rettenden Boje mal scheinbar nahe, dann wieder unerreichbar fern.
    Endlich fiel er doch wieder in Schlaf. Aber es war ein wenig erquicklicher Schlummer, durchzogen von wirren, qualvollen Träumen. Im Schlaf wurde er wieder zum Knaben von zehn oder zwölf Jahren, im Salon seines Elternhauses am Charles Square. Geduckt stand er vor seinem Vater, der hoch und massig vor ihm aufragte, und der Vater hob und senkte seinen Arm und schlug unablässig, mit mechanischem Gleichmaß, auf ihn ein. Robert krümmte sich und versuchte seinen Kopf unter Händen und Armen zu schützen, und die Schläge prasselten auf seine Schultern, seinen Rücken, während der Vater schrie, mit dröhnender Stimme, immer wieder dieselben Worte: »Es ist unschicklich, in Gegenwart einer Dame das Jackett abzulegen - wann wirst du das endlich verstehen!« -
    Als ihn die Stimmen der Gefährten irgendwann weckten, Stunden oder Augenblicke später, war Robert dankbar, daß er diese Nacht überstanden hatte, auch wenn er sich gänzlich zerschlagen fühlte und sein Kopf vor Schmerzen dröhnte. Weiterhin herrschte in ihrem Kerker schwarze Finsternis. Starr lag er in seiner Hängematte und lauschte Pauls morgendlicher Häme und Miriams Lachen, Stephens tiefer Stimme, die vor Tatendrang vibrierte, und nahe bei ihm dem Gemurmel von Henry und Ajkech.
    Was für ein traumhafter Unsinn, dachte er und spürte doch, daß selbst dieser Traum, der ihn in eine schaurig verfremdete Kindheit zurückgeworfen hatte, eine eigentümliche Wahrheit barg. Und mit einem Mal schien es Robert, daß er nicht allein schuldig wäre an der Verstümmelung all jener jungen Maya, sondern in seinem Innern zugleic h zu ihnen gehörte, unterjocht wie sie, versehrt wie sie, erfüllt von Schmerzen und Zorn, alles wie sie.
    Wie er so dalag, im Dunkeln in seiner Hängematte, schien es ihm vollkommen klar, daß gerade diese geheimnisvolle Doppelrolle ihn hierhergeführt hatte, nach Kantunmak. Auch die junge India sah er wieder vor sich, wie sie ihm im Traum erschienen war, ihr schmerzliches Lächeln, ihren zuckenden Schenkelstumpf auf der Ruderbank ihres Kanus, und er spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. Es ging nur noch darum zu rächen, dachte er, für Heilung, gar für Rettung war es längst zu spät.

10
     
     
    »Jetzt zur Sache«, sagte Stephen. »In den letzten Wochen sah es ja manchmal so aus, als ob wir vom Glück verlassen wären.« Er rieb sich die Hände und sah mit aufreizend heiterer Miene von einem zum anderen. »Aber wie im Märchen ist auch für uns gerade dann, wenn alles verloren scheint, das Ziel auf einmal zum Greifen nah.«
    Robert spürte, daß Stephen seinen Blick suchte, doch er brachte es nicht über sich, zu ihm hinzusehen. Inmitten ihres modrigen Kerkers hockten sie alle sieben auf dem Boden, im Schein einiger Fackeln, die Mabo und Henry entzündet hatten. Vor einer halben Stunde hatten ihre Wächter ihnen wieder gefüllte Wasserkrüge und Schalen voll zähem Brei gebracht, und die Gefährten hatten es sich alle schmecken lassen, auch Miriam, die ihre Schale mit rosiger Zunge ausgeleckt hatte wie eine goldgelbe Katze, dabei mit großen, lockenden Augen über den tönernen Rand hinweg nach ihm spähend. Er selbst aber hatte nur einen Mundvo ll zerdrückter Bohnen zu sich genommen und dazu eine halbe Amphore schalen Wassers geleert. Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen, doch weit ärger war die trübselige Stimmung, die ihm von der letzten Nacht zurückgeblieben war.
    »Schätze, in spätestens einer Woche wimmelt die ganze Affenstadt von Soldaten Ihrer Majestät«, fuhr Stephen in munterem Ton fort. »Bis dahin sind wir entweder über alle Berge, den Schatz natürlich im Gepäck, oder wir machen uns das Kampfgetümmel zunutze: Während unsere Soldaten

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