Im Tempel des Regengottes
Taugenichts!«
Neben ihr stand Mr. Mortimer, drohend über sie gebeugt, sein rundes Gesicht verfinstert vor Zorn. Dennoch dauerte es einen weiteren Moment, bis sie begriffen hatte, daß die unflätigen Beschimpfungen niemand anderem als ihr galten - ihm vielmehr, Henry, ihrem männlichen Ebenbild. Ehe sie etwas antworten oder gar sich aufrappeln konnte, erhielt sie einen schmerzhaften Tritt in die Seite. Sie fuhr herum: Zu ihrer Linken stand Miriam, das Goldhaar in der Morgensonne leuchtend.
»Sag ihm, er soll endlich aufstehen, Stephen«, verlangte Miriam in weinerlichem Tonfall.
Helen sprang auf die Füße, ohne den Befehl abzuwarten. Wo nur befand sich Mr. Thompson? Rasch sah sie sich um und stellte fest, daß ihr Floß bereits am rechten Ufer angelegt hatte. Mr. Thompson, Mabo und Mr. Climpsey waren eben dabei, die Pferde an Land zu führen, wo sich ein schmaler Pfad im Bambusdickicht der schroffen Böschung emporwand.
»Man muß sie rechtzeitig abrichten«, erklärte die falsche Nonne, »sonst nehmen sie sich immer mehr Frechheiten heraus.« Sie schlug Helen mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Wenn du das nächste Mal eine Lady in Not siehst, mein kleiner Affe, springst du auf der Stelle ins Wasser, verstehst du mich?« Helen zwang sich, den Kopf vor Miriam und Mortimer zu senken, wie sie sich unzählige Male gezwungen hatte, in unterwürfiger Haltung vor James Sutherland zu verharren.
»Wenn ich sie dadurch retten kann, sofort«, gab sie zurück, mit ruhiger Stimme, doch ihre Wange brannte, und ihr Herz klopfte vor Angst und Zorn.
»Auch wenn es dich dein eigenes Leben kostet?« Miriam lächelte.
»Ich stehe in Mr. Thompsons Diensten, barmherzige Schwester«, antwortete der Bursche Henry, »und was mein Herr mir befiehlt, will ich gerne ausführen.«
Helen hatte mit erhobener Stimme gesprochen, in der Hoffnung, daß Robert Thompson endlich aufmerken würde. Tatsächlich verharrte er für einen Moment, schon auf halber Höhe des Böschungspfades, und wandte sich zum Fluß in der Tiefe zurück. Mit einer Hand beschirmte er seine Augen gegen die schräge Morgensonne und sah gedankenverloren zu ihnen hinab. Dann drehte er sich wieder um und plagte sich weiter den schlammigen Pfad hinauf, seinen Wallach am Zügel hinter sich herziehend.
VIER
1
In scharfer Rechtsbiegung führte der Pfad um einen Felsbrocken herum, der mehr als mannshoch und mit Buschwerk überwuchert war, dahinter begann der Weg schroff und unvermittelt anzusteigen. Paul Climpseys Fuchsstute blieb einfach stehen, als ob die Welt hier zu Ende wäre, so daß Robert, der dichtauf gefolgt war, Mühe hatte, sein Pferd rechtzeitig zu zügeln. Erstaunt sah er den Hügel hinauf, an dessen Flanke der Weg emporklomm, von Bäumen gesäumt und mit Geröll übersät.
Als er sich umwandte, schob sich eben Mabos Schecke um den Fels. In behäbigem Trott kamen sie heran, doch der Weg hinter ihnen blieb verwaist, und Robert sah, daß die Miene Pauls, der sich gleichfalls umgewandt hatte, noch grimmiger wurde. Vor drei Tagen hatten sie das Floß am Ufer des Labouring Creek zurückgelassen, um sich zu Fuß und zu Pferde südwärts durch die Wildnis zu schlagen, und seitdem hatten sich Stephen und seine geheimnisvolle Gefährtin mehr und mehr von ihnen abgesondert. Die beiden Diener wechselten sich darin ab, das störrische Lastpferd, das ihr gesamtes Gepäck trug, mit allerlei Listen und Lockmitteln voranzutreiben. Stephen hatte darauf bestanden, daß das Packtier stets in seiner Nähe blieb, und so war auch Henry, seit er am gestrigen Mittag Mabo abgelöst hatte, von seinem Herrn getrennt. Robert vermißte seinen kleinen Diener schon jetzt ein wenig, in den letzten Tagen hatte er Henrys Nähe zu schätzen gelernt, und er befürchtete, daß Stephen und vor allem Miriam den Burschen drangsalieren würden. Aber Henry würde sich schon zu wehren wissen, dachte er dann. Der junge Mestize mochte auf den ersten Blick scheu und unbeholfen wirken, doch in den letzten Tagen hatte Henry ihn mehr als einmal durch seine stille Klugheit in Erstaunen gesetzt.
»Hier geht's entlang.« Paul deutete den Hügel hinauf.
»Genauso hat Oldboy den Weg beschrieben.« Er trieb seinen Fuchs den Pfad empor, ohne sich um Roberts fragenden Blick zu bekümmern.
Kleine Geröllbrocken lösten sich unter den Tritten von Pauls Stute und kollerten den Pfad hinab. Hoch oben auf der flachen Kuppe erkannte Robert aufgetürmte Felstrümmer, glänzend im Licht der Sonne, die über dem
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