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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Gedanken und sah nur zu, mit klopfendem Herzen, wie die Jaguarpriester im Kreis tanzten, die Arme erhoben, mit geschmeidigen Sprüngen, so daß abwechselnd gestreckte oder gekrümmte Leiber, Jaguarbrüste oder gescheckte Lenden, Schenkel, Schultern an ihm vorbeischnellten, im Licht der Fackeln und umwallt von bräunlichem Rauch.
    Die Anmut ihrer Bewegungen, die bedrohliche Schönheit ihrer phantastisch maskierten Leiber faszinierten ihn so sehr, daß er noch lange dort gestanden und sie angestaunt hätte, mit aufgerissenen Augen, wären sie nic ht plötzlich allesamt in der Bewegung erstarrt. Wie versteinert blieben sie stehen, im Kreis aufgereiht um die Tempelmitte, alle ihm zugewandt, immer abwechselnd eine Priesterin und ein Priester, und sie alle hoben nun die rechte Hand mit dem schwarzen Stachel bis in Höhe ihrer Brust empor. Abrupt verstummte die Trommel, nur um einen Herzschlag später wieder einzusetzen, diesmal in stampfendem, quälend verlangsamtem Takt.
    Wie ein unbeholfenes Spiegelbild der Jaguartänzer hob auch Robert seine rechte Hand empor und sah zum ersten Mal den schwarzen, fingerlangen Stachel genauer an. Er ähnelte in der Tat einem überdimensionierten Reißzahn, doch er war aus glatt poliertem Stein, der das Licht der Fackeln zurückwarf, und sein oberes Drittel, bis hinauf zur zugeschliffenen Spitze, war in sich nadelspitz gezähnt. Es war ein Messer, wie er nun erkannte, gefertigt aus Obsidian.
    Was mochten die Jaguarpriester mit diesen Klingen beginnen wollen? Er versuchte zu überlegen, plötzlich wieder von Unbehagen ergriffen. Obsidian, Messerstein der Opferpriester, dachte er, und diesmal wunderte er sich nicht einmal, woher ihm dies Wissen zugeflogen sein mochte, zu sehr beunruhigte ihn, was aus ihm zu folgern war. Sie wollten ihn schlachten, dachte er, zu Ehren ihres jaguarfleckigen Götzen, oder sie würden sich an seinen Gefährten vergreifen und ihn zwingen, der Zerfleischung Stephens oder Mabos zuzusehen.
    Die Trommelschläge beschleunigten sich aufs neue. Wieder schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es vielleicht gar keine wirkliche Trommel, sondern der Schlag seines eigenen Herzens war. Doch abermals kam er nicht dazu, darüber nachzusinnen, denn in diesem Moment öffneten alle neun Priesterinnen gleichzeitig ihre Lippen, streckten ihre Zungen heraus und bohrten den Stachel in ihre Zungenspitzen, mit rascher, gleichmäßiger Drehung. Robert stöhnte auf, als aus neun Mündern das Blut hervorquoll, und die jungen Priesterinnen hoben ihre beinernen Becher, die sie in der Linken bereitgehalten hatten, und streckten ihre Zungen über die Becher, dabei den Stachel weiter in der Wunde drehend, so daß das Blut in stetigem Rinnsal in die Becher lief.
    Gebannt sah er von einer Priesterin zur nächsten. Auf ein Blutopfer war er gefaßt gewesen, doch niemals hätte er erwartet, daß sie dem Jaguargott ihr eigenes Blut darbringen würden. Er betrachtete die jungen Jaguarfrauen, die mit unbewegten Mienen den Stachel in ihre Zungen schraubten, und auf einmal kam ihm der Gedanke, daß die schöne India, die ihm seit Fort George immer wieder erschienen war, sich unter diesen Priesterinnen befinden könnte, unkenntlich hinter der Jaguarmaskerade. Er faßte ihre Gesichter in den Blick, eine nach der anderen, in der Hoffnung, die ein wenig aufgestülpte Nase, die vollen Lippen, die mandelförmigen Augen der jungen Mayafrau zu entdecken. Aber die Gesichter dieser Priesterinnen waren durch die Umstände des Blutopfers so sehr entstellt, Kinn und Lippen durch den Becher und durch die Hand verdeckt, die mit mechanischem Gleichmaß den Stachel drehte, daß er es gleich wieder aufgab und statt dessen ihre Leiber genauer ansah. Keine dieser Jaguarpriesterinnen war auch nur annähernd so hoch gewachsen, so schlank und zugleich üppig wie jene India, sagte sich Robert, der erst in diesem Moment bemerkte, daß auch die männlichen Priester an dem Blutopfer teilnahmen.
    Längst wummerte die Trommel wieder in jagendem Stakkato, und Roberts Herz raste mit der gleichen holpernden Hast. Entgeistert sah er von einem Priester zum anderen und beobachtete, wie sich die jungen Jaguarmänner zu Ehren ihrer Gottheit verstümmelten. Mit dem gezähnten Obsidiandolch schnitten sie vorn in ihr Schamglied, mit der Linken fingen sie das Blut auf, das in rotem Rinnsal in die beinernen Becher strömte.
    Auf einmal verstummte die Trommel abermals. Oder war es Roberts Herz, das vor Schrecken aussetzte? Während sie weiter

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