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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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den Stachel drehten oder die gezähnte Klinge hin-und herführten, sahen sie alle ihn an, neun Priesterinnen und neun Priester, auf seine rechte Hand, die den schwarzen Stachel umschloß, und auf seine linke, mit der er krampfhaft den beinernen Becher umfaßte. Was erwarten sie von mir? dachte er, und Angst stob in ihm empor. Glauben sie etwa, daß auch ich mich, nach dem Vorbild dieser Priester, zu Ehren ihres Götzen verstümmeln werde? Voller Abscheu sah er auf die Hände der Priester, die mit rhythmischen Bewegungen die Klingen führten, und auf die Hände der Priesterinnen, die rascher und immer rascher den Stachel drehten, und andere Empfindungen begannen sich in seinen Widerwillen zu mischen. Immer hastiger schlug sein Herz, aber nicht nur vor Angst, nicht nur vor Abscheu, auch eine dunkle Lust mengte sich hinein, ein Ziehen in seinem Innern, eine wühlende Erregung, verboten und aus tiefsten Träumen vertraut.
    Robert machte einen Schritt in den Saal hinein, und ihm war, als reiße er sich aus der steinernen Wand heraus. Das Herz schlug ihm bis hinauf in die Schläfen, und Nebelschleier schwebten vor seinen Augen, ungewiß, ob vom Qualm der Fackeln oder in seinem Innern aufgewallt. Stockend ging er weiter, und mit jedem Schritt wuchs in ihm der Drang, es den Jaguarmenschen gleichzutun: sich alle Fetzen vom Leib zu reißen, alle Fesseln aus der Seele herauszureißen, wie sie zu werden, im Taumel des Traums, dachte er, ein tierhafter Tänzer, kraftvoll, selbstvergessen, gelenkt nur von Instinkt und Magie.
    Er trat in ihren Kreis, spürte die Wärme ihrer erhitzten Leiber und atmete ihren Tiergeruch. Die Fackeln schleuderten zuckende Blitze, pulsierend im Takt der Trommel und seines eigenen Herzschlags. Benommen und berauscht, wie er war, hätte Robert es den Jaguarpriestern wohl wirklich gleichgetan, mit Hilfe des schwarzen Stachels, wäre in diesem Moment nicht in der Mitte des Kreises eine Fackel aufgeflammt.
    Sein Blick fiel auf die Gestalt, die im bisher verfinsterten Zentrum hockte, auf dem schwarzen Steinaltar, und sein Atem stockte. Was um Himmels willen? dachte er. Auch die Gestalt vor ihm war nackt und von Kopf bis Fuß mit Jaguarflecken bemalt. Mit gekreuzten Beinen saß sie auf einem Jaguarfell, über und über zerfurcht und ausgemergelt. Sie mußte uralt sein, dachte Robert, älter noch als Iltzimin oder, falls das überhaupt möglich war, älter selbst als der greise Abgesandte aus dem Park des Gouverneurs. Uralte Augen sahen ihn aus tiefen, verschatteten Höhlen an, und vor dem Rumpf des ausgezehrten Wesens baumelten verschrumpfte Greisinnenbrüste, bis auf ihre faltigen Schenkel, zwischen denen ein schlaffes Glied hinabhing, wie der ganze, scheinbar fleischlose Leib mit Jaguarflecken bemalt.
    Robert starrte ihn an, und er wollte schreien, sein Entsetzen aus sich herausschreien, doch seine Kehle blieb stumm, und in dem Moment, als sein Mund sich wieder schloß, wurde ihm bewußt, daß die Gestalt vor ihm niemand anders als der Chilam Balam sein konnte. Der oberste Priester des Jagua rgottes, dachte er, war nicht nur ein ausgezehrter Greis, weit älter als alle Menschen, die er jemals gesehen hatte, sondern überdies ein Zwitter, doppelgeschlechtlich wie die Urmenschen der frühesten Schöpfungsmythen.

8
     
     
    Nackt bis auf seinen Schurz lag er auf dem Gitter, das aus dünnen Baumstämmen gefertigt war. Unter Schultern und Schenkeln spürte er überall kleine Aststümpfe, Rindenknoten, die sich schmerzhaft in seine Haut drückten. Doch er konnte sich nicht zur Seite wälzen, um eine bequemere Stelle zu suchen, da er mit Händen und Füßen an das Gitter gebunden war. In der Haltung eines Gekreuzigten, dachte er und mußte lächeln, törichterweise, wie er sich sogleich tadelte. Aber trotz seiner mißlichen Lage empfand er bei diesem Gedanken einen leisen Stolz.
    Immer wieder gingen ihm die magischen Verse durch den Kopf, die Catherwood überliefert hatte, angeblich eine Inschrift aus der Pyramide des Zauberpriesters von Uxmal:
     
    Zur Stunde des Adlers liegt er im dämmrigen Tempel, Hingestreckt auf Hirschfell, im bitteren Rauch von Copal. Hinter hängenden Lidern sieht er das Verhängnis der Götter: Haß, Hader, Habsucht, keine Gnade, jadegrün.
     
    Er ist Chilam Balam, liegender Jaguar, Prophet des Gefleckten, Von Kriegern gefürchtet, von Priestern erhoben, dem König zur Qual. In der verhängten Nacht seines Tempels scheint nur Ukabku: Schorfiger Opfermond, Omnivore aus

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