Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
notwendig war, das Schreien des Mädchens zu übertönen. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile war die Stimme von Fenris überhaupt nicht zu hören.
Ein Stuhl wurde lautstark über den Fußboden gerückt, dann fiel er um. Dann wurde Glas zerschlagen. Oben in seinem kleinen Zimmer zuckte Luke schmerzhaft zusammen.
Er legte den Unterarm über die Stirn, um die Blutung zu stillen. Sein Kopf war heiß und fühlte sich völlig schwerelos an, hinter den Augen spürte er eine Schwellung. Die neue Wunde schmerzte nicht so sehr. Aber es würde bestimmt wieder anfangen. Sehr bald. Die Endorphine würden nur eine kurze Zeit ihre Wirkung entfalten. Die Schmerzlinderung war zeitlich begrenzt. Das war immer so.
Dass er sich dem Kampf gestellt hatte, machte ihn froh. Was
natürlich unsinnig war, denn er hatte seine Situation nur verschlechtert. Die Sicherheitsvorkehrungen würden verstärkt. Er hatte sich unbeliebt gemacht, und seine Gegner würden den Gesichtsverlust nicht so rasch vergessen, sie würden auf Rache sinnen. Das war unvermeidlich, vorhersehbar und gleichzeitig auch kindisch, aber zweifellos nur allzu menschlich. So funktionierte die Welt nun einmal.
Jetzt waren die Regeln des grausamen Spiels zwischen ihm und ihnen deutlich geworden. Jede neue Zusammenkunft von Menschen führte zu einer hierarchischen Ordnung. In der, die hier herrschte, war er auf dem letzten Platz der Rangliste. Er war nur ein machtloser Zuschauer, der den debilen Sadismus dieser jungen Leute hinnehmen musste. Das war seine Rolle.
»Wie? Wie?«
Das Mädchen im Erdgeschoss gab ein lautes Stöhnen von sich, als hätte sie sich jetzt ausgeweint und genug herumgeschrien und wäre dabei sich zu beruhigen. Lokis tiefe Stimme ertönte. Von Fenris war noch immer nichts zu hören.
Luke saß auf seinem Bettkasten und hatte Durst. Seltsamerweise hoffte er, dass er Fenris nicht zu sehr verletzt hatte. Er hatte keine Freude an dem Leid, das er selbst verursachte.
Immerhin wurde er allmählich wieder wach. Es war gut, dass er endlich wieder den Drang verspürte, etwas zu unternehmen. Das Heilen seiner Wunde war jetzt erst einmal zweitrangig. Er musste den Schmerz niederkämpfen und versuchen, hier so schnell wie möglich wegzukommen.
Er war der Gefahr entronnen, jedenfalls der unmittelbaren Lebensgefahr, aber nur, um in einem stinkenden Bett zu landen, das in einem stickigen Zimmer eines alten Hauses stand, von dem er noch nicht einmal wusste, in welcher Gegend es eigentlich lag. Um sich halbwegs sicher zu fühlen, muss man aber wissen, wo ungefähr man sich befindet, auch um sich darüber klar zu werden, wo die anderen Menschen eigentlich sind. Seit
Hutch beschlossen hatte, dass sie die Abkürzung nehmen sollten, hatte Luke nicht mehr gewusst, wo er sich befand. »Ganz schön bescheuert, Hutch.«
Aber wenn du jemanden bei dir aufgenommen hast, wenn du ihm etwas zu essen gibst, ihm einen Platz unter deinem Dach anbietest, dich aber andererseits nicht um die womöglich schwere Kopfverletzung kümmerst, die dein Gast hat, dann ist das eigenartig. Denn Schweden ist doch ein modernes Land, wo es Krankenwagen gibt, Krankenhäuser und sogar Rettungshubschrauber, wenn erforderlich. In diesem Fall aber …
Luke fuhr sich mit den schmutzigen Händen über das feuchte Gesicht. Er befand sich in einer verdammt unangenehmen Situation. Das Ganze war sehr eigenartig und absurd.
Sie wollten ihn im Unklaren lassen. Fenris hatte es vermieden, seine Fragen zu beantworten. Von seinen Gastgebern würde er keine nützlichen Informationen bekommen, das war ihm inzwischen klar geworden. Er wurde hier gegen seinen Willen festgehalten. Sein wichtigstes Ziel musste sein, hier wegzukommen. Denn diese Masken, die Musik, das Geschrei und das Feuer dort unten auf der Wiese, das machte alles überhaupt keinen guten Eindruck, im Gegenteil.
Er versuchte, nicht an das schreckliche Ding im Wald zu denken, dieses undenkbare Etwas, das seine Freunde getötet hatte. Bis jetzt war er zu krank und verletzt und müde gewesen, um einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber so wie es aussah, war auch diese Geschichte noch nicht vorbei. Da war er sich leider nur allzu sicher.
Die jungen Leute waren wegen diesem Ding hierhergekommen. »Blood Frenzy« nannten sie ihre Band: Blutrausch. Und sie verschleierten ihre eigene Identität, indem sie sich saublöde dämonische Namen gaben. Aber wer sich dahinter verbarg, war ziemlich leicht über die Postfachadresse in Oslo und die angegebene
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