Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
jämmerlichen Zustand.
»Auf, auf«, sagte Loki.
Fenris grinste ihn an. »Mann, du stinkst aber.«
Luke versuchte aufzustehen. »Nein, bitte, das tut weh … stopp!« Aber dann brachte der jähe Schmerz in seinen Handgelenken ihn zum Schweigen, als Surtr das Seil noch straffer zog. Er konnte ihr Mondgesicht und ihr gehässiges lippenloses Lächeln nur noch durch einen Schleier aus Tränen wahrnehmen.
Fenris packte ihn, gleichzeitig schob Loki eine seiner breiten Hände unter seinen rechten Arm. Gemeinsam zogen sie ihn hoch und aus dem Bett heraus, so dass er sich hinstellen musste. Fenris grinste ihn an. »Große Überraschung für dich heute, Luke.«
Sie zerrten ihn aus dem Zimmer, dann durch einen schmalen Korridor, stießen und schubsten ihn weiter. Surtr ging voran, ihre breiten nackten Füße klatschten über den Holzboden. Die Fußsohlen waren schwarz wie Teer. Loki folgte ihr mit gesenktem Kopf, um nicht gegen die Decke oder die Öllampen zu stoßen. Sein mächtiger Körper schob sich vor die Lichtquellen und verfinsterte den engen Flur. Dicht hinter Luke kam der vor sich hin kichernde Fenris. Er war so nah, dass Luke seinen Atem am Ohr spüren konnte.
Alle waren aufgeregt, aggressiv, ungeduldig und drängelten.
Er wollte sie anschreien, sie sollten ihn in Ruhe lassen, aber der schockierende Gedanke, dass Dom dort draußen irgendwo war, ließ ihn verstummen. Er lebte also noch. Das war doch kaum möglich. Er fühlte sich, als würde ihm das Herz brechen. »Wo habt ihr ihn gefunden? Wo ist mein Freund?«
Am oberen Ende der Treppe drehte Loki sich um, und die heftige Kopfbewegung ließ sein langes schwarzes Haar umherfliegen wie eine schwarze Flutwelle. »Er hat uns gefunden.«
Luke konnte kaum noch atmen und auch das Sprechen fiel ihm schwer. »Geht es ihm gut?«
Fenris lachte und sagte: »Sehr gut sogar.«
Loki verzog das Gesicht und wandte sich dann ab.
»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte Luke. Seine Orientierungslosigkeit ließ allmählich nach, der Schmerz in seinen Gelenken ging zurück.
»Vorsicht, die Stufen sind sehr alt. Da kannst du dich schnell auf den Arsch setzen«, sagte Loki.
Fenris schob Luke weiter. Er rutschte die ersten drei Stufen hinunter, stieß gegen die uralten Wände und richtete sich wieder auf. Es war, als würde man an Deck eines kleinen Boots stehen oder durch einen fahrenden Zug laufen. Sein Gleichgewichtssinn war gestört. Ob das daran lag, dass er gerade aufgewacht war oder dass seine Hände zusammengebunden waren oder dass er eine Kopfverletzung hatte, konnte er nicht sagen. Aber da waren sie auch schon im Erdgeschoss angelangt, und der Boden unter seinen nackten Füßen fühlte sich solide an. Aus der offenen Haustür drang frische Luft herein, und der feuchte Geruch von Regen und Erde umfing ihn.
Sie betraten eine schmale Diele, von der eine unbeleuchtete Küche abging. Darin waren ein schwarzer eiserner Herd unter einem Kaminabzug, ein alter Tisch mit massiver Holzplatte, Stühle mit gebogenen Beinen und ein paar Schränke zu sehen, von denen die Farbe abblätterte.
Durch eine Tür auf der rechten Seite fiel sein Blick in ein größeres Wohnzimmer, dessen uralte dunkle Holzwände mit Geweihen, Schädeln und anderen düsteren Dingen verziert wurden. Dann gab Fenris ihm von hinten wieder einen Schubs, und er stolperte durch die Tür nach draußen auf eine schiefe, aus Holzbohlen gezimmerte Veranda.
Die verkohlten Überreste des Scheiterhaufens vom Vorabend waren noch auf der Wiese zu sehen. Es roch nach kaltem Rauch und feuchter Asche.
Auf der linken Seite der Veranda stand die alte Frau. Luke erstarrte, als er die winzige Person in ihrem langen ausgeblichenen schwarzen Kleid bemerkte. Die Augen funkelten in ihrem eingefallenen ausdruckslosen Gesicht. Ihr ungleichmäßiges, kurz geschnittenes weißes Haar war ungekämmt. Sie stand da, im trostlosen morgendlichen Licht, und sah ihn desinteressiert an. Die jungen Leute schienen sie gar nicht wahrzunehmen.
Luke sprang ein Stück von Fenris weg und stolperte eilig hinter Loki her.
Verzweifelt sah er um sich. »Dom, Dom, wo bist du?« Er sehnte sich danach, seinen Freund wiederzusehen. Außerdem wollte er versuchen, einen Eindruck von dem Haus zu bekommen, in dem er gefangen gehalten wurde, und das Gelände erkunden. Aber er taumelte doch nur völlig verwirrt über die Grasfläche vor der Veranda. Und dann bemerkte er etwas, weiter oben, direkt vor ihm. Es hing im Baum, wie ein verunglückter
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