Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
Flüstern wurde stärker, dann ebbte es ab.
Stille.
Auf diese Weise erreichte er gar nichts. Wen hatten sie denn da oben untergebracht? Kinder? Er dachte an das Haus von Fred und Rose West in Gloucester, in dem die eingemauerten Gefangenen erstickt waren. Erinnerte sich an das, was er über den Verlust an Willenskraft bei Gefangenen gehört hatte, die von degenerierten Mördern gefangen gehalten wurden. Dahmer, Manson, der Green River Killer, Brady, Nilsen, die Bestie von L.A. und all die anderen Würger, Vergewaltiger und Serienkiller, die es in die Sensationsprogramme der Privatsender geschafft hatten. Er dachte an die Opfer, die entführt worden waren, mit denen sie gespielt hatten, die sie erniedrigt, vergewaltigt und manchmal auch gegessen hatten. Diese Gedanken machten ihm so sehr zu schaffen, dass er sich erst einmal hinsetzen musste.
Dann ballte er die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Am
liebsten hätte er laut losgebrüllt, um gegen das Unmögliche, das Absurde und das absolut Unfaire an dieser Situation zu protestieren. Es gab einfach keine Mittel sich auf den Wahnsinn der anderen vorzubereiten, der einen in jeder Sekunde dieses Lebens überfallen konnte.
Er merkte, dass er den Atem angehalten oder bestenfalls nur ganz kurz geatmet hatte, seit er die Bewegungen über sich vernommen hatte. Nun sog er die modrige Luft des Raums gierig in seine Lungen. Und erschauerte. Inzwischen war es sehr kühl geworden. Seine Füße waren starr vor Kälte. Er fragte sich, ob sie womöglich schon blau angelaufen waren. Wieder wurde er wütend, weil man ihm seine Kleider weggenommen hatte. Vielleicht waren seine Sachen ja in einem üblen Zustand, aber es konnte auch sein, dass sie ihn aus kalter Berechnung ausgezogen hatten.
Er berührte die klaffende Wunde an seinem Kopf. Es fühlt sich bestimmt schlimmer an, als es ist, beruhigte er sich, war aber gar nicht sicher, ob er das glauben konnte.
Er bewegte sich langsam auf die vagen Umrisse seines Bettes zu. Wenn er sich ein bisschen ausgeruht und aufgewärmt hatte, würde er viel besser damit klarkommen, mit denen da oben. Morgen würde er sich darum kümmern.
Der Gedanke daran machte ihm zu schaffen und raubte ihm die letzten Kräfte. Hätte er sich doch bloß nicht dazu hinreißen lassen, Fenris zu schlagen. Jetzt waren sie natürlich auf der Hut. Aber er musste unbedingt etwas unternehmen. Vielleicht sollte er wirklich versuchen, sich einen Fluchtweg durch die Wand zu graben. Ja, genau. Erst würde er schlafen und dann den Krug zerbrechen, indem er den Eimer zu Hilfe nahm, ganz leise natürlich, am besten unter dem Bettzeug. Dann würde er zuerst den Putz abkratzen, während die Bandmitglieder von »Blood Frenzy« ihren Rausch ausschliefen und sich von ihrer wilden Party erholten. Sie würden ihn doch sowieso umbringen. Dass er die Mauer beschädigte, dürfte da sein geringstes Problem sein.
Er setzte sich aufs Bett. Starrte ins Nichts. Ihn sowieso umbringen. Er überlegte, wie sich das wohl anfühlte, wenn man starb. Vielleicht wurde es einfach bloß dunkel.
Über ihm war es jetzt wieder ganz ruhig, aber er fragte sich, ob die da oben jetzt womöglich seinen Gedanken lauschten.
Er streckte sich auf dem Bett aus. Es stank wie ein Viehstall, aber immerhin war es warm unter der Decke.
56
Er stand am Fenster. Der Himmel wurde vom blassen Licht des Monds erhellt. Er war so groß und nahm so viel Platz ein, dass man glauben konnte, er sei kurz davor, auf die Erde zu prallen. Vom Haus aus sah man den Wald, der sich mit seinen zahllosen schwarzen Bäumen unendlich weit zu erstrecken schien. Die Bäume standen ganz ruhig da, aber der Wald war nicht ruhig. Eigenartige Schreie waren in der Ferne zu hören. Sie kamen aus dem kalten lichtlosen Raum unterhalb des weiten Dachs der Äste, die wirkten wie kräftige Arme, die sich zum Lob der nächtlichen Illumination feierlich ausbreiteten. Die dunklen Blätter an den Spitzen der höchsten Bäume schienen in dem kalten Licht wie vom Frost erstarrt. Ein wundersames Licht, das Luke jedoch keinen Trost spendete. Auch wenn er sich das gewünscht hätte.
Hinter ihm in seinem Zimmer sprach jemand zu ihm mit einer dünnen hastigen Stimme. Eine kleine Person. Was sie sagte, verstand er irgendwie, auch wenn er bisher in seinem Leben noch nie von derartigen Dingen gehört hatte. Aber es war ihm nicht erlaubt sich umzudrehen.
Er spürte das dringende Bedürfnis, nach unten zu gehen, auf diese weißliche Lichtung unterhalb seines
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