Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
Vom Netzwerk:
Fallschirmspringer, der völlig schlaff und willenlos herabbaumelte. Luke musste den Blick abwenden und schnappte nach Luft.
    Dann warf er den Kopf wieder zurück und schaute sich die zerfetzte Gestalt im Baum an, die direkt vor der Tür aufgehängt worden war, so dass er sie auch von seinem Fenster aus sehen konnte. Das rötliche und gelblich glänzende rohe Fleisch und die weiß schimmernden freigelegten Knochen hoben sich vor dem Hintergrund des dunklen Grüns des Baums deutlich ab.

    »Wir haben ihn mit unserer Musik dorthin beschworen, siehst du!«, rief Fenris laut hinter Luke aus.
    Luke fiel auf die Knie, starrte ins Gras, dann auf seine gefesselten Hände. Dann blickte er wieder nach oben.
    Diffuses Licht tröpfelte durch die Äste. Auf Doms Gesicht lagen Schatten, es war vollkommen starr, wachsweiß unter dem struppigen Bart, der sich rechts und links der zerschlagenen Nase ausbreitete. Um den Mund herum sah man Spuren von verkrustetem Blut. Sein Gesicht wirkte seltsam ausdruckslos, als wären ihm die Umstände seines Todes fast schon egal gewesen.
    Die blassen Arme waren ausgebreitet wie die eines Betrunkenen, der seinen Freunden die Hände auf die Schultern legen möchte. Sie waren zwischen zwei Baumstämmen an den Ästen festgemacht, knapp drei Meter über dem Boden. Sein Oberkörper und seine Beine baumelten herab und wirkten beinahe schwerelos, nachdem alles, was sich in seinem Brustkorb befunden hatte, daraus entfernt worden war. Die noch feucht glänzende Wirbelsäule wirkte viel entsetzlicher als das Blut, das um seinen klaffenden Mund verschmiert war. Von der Hüfte bis zu den Oberschenkeln war ihm die Haut abgezogen worden. Nun war er nichts weiter als ein Stück Fleisch, das man so auch ins Schaufenster einer Metzgerei hätte hängen können.
    Lukes Sicht vernebelte sich, er konnte kaum noch Konturen wahrnehmen, dann wurde alles vor seinen Augen weiß. Er fiel zur Seite und blickte jetzt zurück zum Haus. Er sah es zum ersten Mal von außen. Es war aus Holz gebaut, das im Laufe von vielen Jahren völlig schwarz geworden war. Hatte ein spitzes dunkles Dach. Und kleine Fenster.
    Zwei Paar Stiefel mit dicken Sohlen, die von den Spitzen bis zu den Absätzen mit silbernen Nieten beschlagen waren, kamen näher und blieben direkt vor seinen Augen stehen.
    »Es reicht jetzt. Es ist genug«, sagte Luke, auch wenn er überhaupt
nicht wusste, mit wem er eigentlich sprach. »Nicht Dom. Nicht meinen Freund. Es ist genug.«
    »Wir rufen es, und es kommt. Unsere Musik ist die reinste Magie«, sagte Fenris aufgeregt. Als die Worte endlich in Lukes Kopf ankamen, verwirrte ihn diese Aussage. Dann bemerkte er, dass er gar nichts mehr fühlen konnte. Überhaupt nichts, als wären alle Nerven aus seinem Körper entfernt worden wie man Leitungen aus einer Wand rupft. Als ihm klar wurde, dass Fenris nicht von Dom sprach, sondern von dem Ding, das seine sterblichen Überreste hierhergebracht hatte, schloss er die Augen.
    »Dies ist der abgelegenste Ort in ganz Skandinavien, Luke«, wandte Loki sich jetzt wieder an ihn. »Hier können die ältesten Dinge noch existieren, mein Freund. Hier herrschen andere Regeln. Hier sind andere Energien vorhanden, verstehst du?« Luke starrte immer noch das Haus an.
    Fenris ergriff wieder das Wort. Hastig redete er auf Luke ein, der in seiner dreckigen Unterwäsche im Gras lag, die Hände mit einem Plastikseil aus dem Baumarkt verschnürt. »Diese Energien haben es am Leben gehalten. Es ist wirklich geblieben.«
    Dann sprach Loki mit seiner tiefen, weichen Stimme mit ihm, als wollte er ein verwirrtes Kind besänftigen: »Da ist etwas, das an das Licht der Welt drängt, Luke. Es ist auch in uns. Etwas Schreckliches. Zerstörerisches. Ich kann es auch in dir spüren. Es hat dich hergelockt, stimmt’s? Und deine Freunde auch. Genauso wie uns. Aber ich muss dir leider sagen, dass die Unschuldigen manchmal geopfert werden müssen.«
    Fenris plapperte atemlos und begeistert weiter. »Wie, glaubst du, haben sie hier wohl überlebt? Eine sehr lange Zeit haben sie hier überlebt. Niemand traut sich, sie anzugreifen. Sie leben wie sie wollen. Das hier ist der älteste Urwald Europas. Er steht unter Schutz. Deshalb kann all das hier noch existieren.«
    Lokis Stimme klang distanziert, völlig unbewegt von dem schrecklichen Ende eines Vaters, Ehemanns und Freunds, von
dem grausigen Schicksal des Mannes, der dort oben im Baum hing. »Dies ist das Land unserer Vorfahren. Hier ist Odin noch lebendig.

Weitere Kostenlose Bücher