Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
wolkenverhangen und düster. Nur heute früh um fünf Uhr hatten sie ein kleines Stückchen weißlichen Himmel gesehen, danach war er sehr schnell wieder dunkelgrau geworden. Der Pfad ging irgendwo im Unterholz weiter. Ganz bestimmt, denn er hatte früher einmal zu einer Behausung geführt.
Luke blieb stehen und starrte das an, was dort drüben am anderen Ende der Lichtung stand. Eine Kirche. Und er war gerade über den Friedhof gekrochen. Ein sehr alter Friedhof, dessen Gräber man dank der aufrecht stehenden Grabsteine noch immer erkennen konnte.
22
Keiner sagte etwas, als Luke ohne seinen Rucksack zurückkehrte. Er war ziemlich unachtsam gewesen, als er losgerannt war, um wieder zu ihnen zu kommen: Er hatte einen tiefen langen Kratzer im Gesicht abbekommen, der sich stark gerötet über die ganze linke Wange zog. Auf Höhe des Jochbeins hatte die Wunde geblutet und war nun verkrustet. Auch hatte er nicht bemerkt, dass ein Ast, der ihm direkt gegen den Mund geschnellt war, seine Oberlippe aufgerissen hatte, wodurch seine Zähne jetzt von einem scharlachroten Film überzogen wurden. Dom und Hutch starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an, atemlos und unfähig zu sprechen angesichts seines nassen und zerschnittenen Gesichts.
Auf seinem Weg fort vom Friedhof hatte ihn etwas angetrieben, das ihn unglaublich aufgeregt und wütend gemacht hatte. Er hatte auf die Äste eingeschlagen, die ihm den Weg versperrt hatten. Er war sogar stehen geblieben, um ein paar kleinere Fliegenpilze platt zu treten. Weil die Rückkehr zu den anderen ganz offensichtlich schwieriger war als das Fortgehen, ganz so, als wollte der Wald es verhindern. Er wurde wieder an seinen Alptraum erinnert und war nicht besonders erfreut darüber. Immer wieder hielt er an und zupfte die stacheligen Zweigspitzen von seiner Jacke, die inzwischen unter dem einen Arm zerrissen war.
Er konnte sich nicht erinnern, dass das Gestrüpp genauso dicht gewesen war, als er es in die andere Richtung durchquert hatte. Ständig wurde ihm der Weg versperrt, zerrten Zweige an ihm, als wollten sie ihn zurückhalten. Er taumelte mehr, als dass er lief, und auch das versetzte ihn in eine Wut, die er nur zu gut kannte und die gar nicht gut war. Er verfluchte den Wald, verfluchte Hutch, verdammte Dom, die ganze Welt und seine erbärmliche Situation. Er kochte vor Wut. Und mit jedem Schritt, den er auf dem Weg zu seinen Freunden zurücklegte, wurden seine Gedanken finsterer, wenn er an diese verfallene Kirche inmitten einer tristen nassen Welt dachte.
Als er die anderen endlich erreicht hatte, konnte er kaum glauben, wie langsam sie sich fortbewegt hatten, wie wenig sie vorangekommen waren, seit er sie verlassen hatte. Es kam ihm vor, als hätte er den gesamten Weg, den er vorausgegangen war, auch wieder zurücklaufen müssen bis zu der Stelle, an der er sie hinter sich gelassen hatte.
Luke richtete sich auf, nachdem er sich nach vorn gebeugt hatte, um wieder zu Atem zu kommen. »Ich dachte schon, ich hätte euch verloren.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Hutch.
»Hä?«
»Dein Gepäck. Wo ist es?«
»Ich hab es liegen gelassen. Es hat mich nur aufgehalten.«
Dom schaute Hutch an und verzog das Gesicht, als wollte er damit sagen, dass er sich ja schon immer gedacht hatte, dass Luke nicht ganz dicht war. »Und wo drin zum Teufel willst du dann schlafen?«
»Ich hab es doch nicht weggeworfen. Nur liegen gelassen, damit ich schneller zu euch zurück kann.«
»Warum denn?«, fragte Hutch mit einer Lässigkeit, die Luke ziemlich ärgerte. »Hast du was gefunden?«
»Weil …«
»Weil was?«
Was zum Henker war denn los mit denen? Wieso schlenderten sie so gemächlich den Weg entlang? Dom und Hutch hatten über irgendwas gegrinst, als er zurückgekommen war. Er bildete sich sogar ein, dass er sie hatte lachen hören, als er sich näherte. »Nehmt ihr das hier überhaupt ernst?«, fragte er. Als er die überraschten Gesichter seiner Kameraden sah, wünschte er sich, er hätte das nicht gesagt. Phil stand hinter ihnen. Er hatte jetzt wieder etwas mehr Farbe im Gesicht, blickte Luke aber mit einer Mischung aus Vorsicht und Enttäuschung an. Seine Kapuze war halb zurückgeschoben, wodurch er ziemlich lächerlich aussah.
»Ganz bestimmt nehmen wir es ernst, du Arschloch«, schrie Dom ihn an. »Glaubst du vielleicht, das macht mir Spaß?«
»Bleib ruhig, Dom«, schaltete Hutch sich ein. Aber etwas an dieser Zurechtweisung war falsch. Irgendwas an Doms breitem,
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