Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
feistem, verkniffenem Gesicht und seinem freundschaftlichen Grinsen ließ Luke glauben, dass er alles wieder klarer sehen konnte. Als würde diese kalte Wut, die aus seinem Körper hervorbrach, die düsteren Gedanken in seinem Kopf vertreiben. Er fühlte sich leicht und hörte nichts mehr außer dem heißen Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Was er sagte, schien nicht aus ihm heraus, sondern von irgendwo außerhalb seines Kopfes zu kommen. Er erkannte seine eigene Stimme kaum mehr, als wäre es eine Tonbandaufnahme, die abgespielt wurde, um ihn in Verlegenheit zu bringen. »Wenn du mich noch mal so nennst, dann spieß ich deinen gottverdammten Arsch auf!«
Er beobachtete sich selbst, wie er drei Schritte auf Dom zuging, und hatte dabei das Gefühl, sich außerhalb seines Körpers zu befinden. Das Gesicht seines Freundes wurde blass und verhärtete sich, als wäre er gezwungen sich etwas sehr Unangenehmes anzuschauen.
Ein ferner kleiner Teil von Luke war sich bewusst, dass sein
Körper nur aus niederem Instinkt handelte. Er brachte ihnen die Wut, die ihn zwischen den Bäumen angefallen hatte; wegen dieser endlosen Wildnis von nass triefenden Bäumen, die ihn nicht durchlassen wollten. Diese Wut verlangte nach einem Ventil. »Hast du gehört, du Schwein?«, brüllte er Dom ins Gesicht und sah, wie ein dicker Tropfen seines Speichels auf Doms Kinn landete.
»Luke!«, rief Hutch neben ihm aus. »He!«
Aber er konnte sich nicht mehr beherrschen, seine Wut brauchte einen Blitzableiter. Mit beiden Händen stieß er Dom heftig von sich. Der verlor die Balance und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf sein schlimmes Knie und dann seitlich ins Gebüsch. Irgendwas raschelte hinter Luke, und eine feste Hand umklammerte seinen Oberarm. Er wurde zurückgezerrt, fort von Dom, und einen kurzen Augenblick schienen sich seine Füße vom Boden zu lösen. Sämtliche Kräfte verließen ihn mit einem Mal. Er scharrte mit den Füßen, als Hutch ihn ein paar Meter weiter losließ.
»Du Scheißkerl!« Dom rappelte sich wieder auf. Mit seinem breiten Hintern, dem herausgezogenen Hemd und seinen plumpen Bewegungen wirkte er jämmerlich. Doch dann kam Dom auf ihn zu, und sein Humpeln schien verschwunden zu sein. Er schob Hutch roh beiseite. Das Weiße in Doms Augen verfärbte sich rötlich. Seine von Sommersprossen übersäten Fingerknöchel bewegten sich ganz langsam und landeten dann mit einem Klatschen auf Lukes Mund. Es fühlte sich mehr nach einem Stoß als nach einem Schlag an, aber seine Oberlippe wurde augenblicklich taub. Ist das alles?, fragte er sich. Fühlt sich so ein Faustschlag an?
Eine ganze Weile starrten sie einander an, bis der Gedanke, verprügelt worden zu sein, sich vermischte mit der Einsicht, dass dieser Schlag ihm klarmachen sollte, dass er Doms Sticheleien, seine Kritik, seine blöden Bemerkungen und seine Ignoranz
gegenüber allem, was Luke seit ihrem Zusammentreffen am Vorabend des Abmarschs gesagt hatte, ganz einfach hinnehmen musste. Aber die Rolle, die ihm in ihrer kleinen Gruppe zugewiesen worden war, seinen Platz in der Hierarchie, das wollte er nicht länger akzeptieren.
Als er mit seiner linken Faust ausholte, zog er den Arm weit genug zurück, um genug Lockerheit in der Schulter und genügend Schwung zu haben. Dom war zu langsam, um den Schlag abzuwehren, und Luke traf ihn mit voller Kraft direkt unter dem rechten Auge.
Doms Kopf wurde zurückgeworfen, auf seinem Gesicht breiteten sich Fassungslosigkeit und Abneigung aus. Lukes zweiter Faustschlag kam von der anderen Seite. Er sah, wie sein Arm in dem durchnässten Khaki-Ärmel weit ausholte, um Dom genau am Kinn zu treffen.
Dom ging sofort zu Boden und konnte seine Hände nicht mehr benutzen, um den Fall abzufedern, denn er hatte sie nach vorn gestreckt, um seinen Gegner zu packen.
Hutch und Phil traten einige Schritte von Luke zurück und sahen aus, als wollten sie in Deckung gehen. Sie starrten ihn an wie einen gefährlichen Fremden. Sie waren schockiert. Hatten Angst vor ihm? Tatsächlich wollte er weiter zuschlagen. Es wäre ihm lieber gewesen, Dom wäre nicht so schnell zusammengebrochen. Dann könnte er ihm so lange die Fresse polieren, bis er sich wieder besser fühlte, wieder und immer wieder, mit geballten Fäusten.
Seine Hände waren kein bisschen verletzt worden, und der jähe Ausbruch von Kraft und Energie gepaart mit dem Zusammenbruch seines Gegners erzeugten in ihm eine rauschhafte Euphorie. Sein Körper schien sich wieder in eine
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