Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
Kieselsteine auf. Ein Grunzen ertönte, das klang, als käme es von einem Ochsen, und dann erahnte Luke, mehr als er es sah, einen dunklen Schemen, der sich duckte und dann flink davonstob, wie der gleitende Schatten einer Wolke, die sich ganz kurz vor die Sonne schiebt. Da es vom schief stehenden Zelt und den dahinterliegenden Bäumen verdeckt wurde, konnte er nur eine ungefähre Vorstellung von dem langgestreckten, flinken schwarzen Ding bekommen, das nun schnell wie der Blitz den südlichen Hang hinabsauste.
Luke setzte mit ungelenken, taumelnden Sprüngen über die mit Flechten besetzten Felsbrocken hinter dem Zelt hinweg, laut keuchend, bis er schließlich mit einem wilden Aufschrei in dem Pesthauch landete, den irgendein unmenschliches Wesen hier oben auf dem Gipfel hinterlassen hatte. Er rappelte sich wieder auf, an dieser Stelle, wo die Kreatur eben noch gelauert hatte, wo sie nach vorn gesprungen war, um sich Dom zu schnappen, der vor dem Zelt gesessen und in die andere Richtung geblickt hatte. Im Windschatten natürlich.
»Verdammt schlau, der Scheißkerl.«
Deshalb hatte Dom nicht bemerkt, wie sich das mächtige Vieh mit seinem nassen, stinkenden ungepflegten Fell und seinem
nach vergammeltem Fleisch stinkenden Maul und seinen tierischen Ausdünstungen und seinem ekelerregenden Atem, der aus der riesenhaften Schnauze drang, herangepirscht hatte.
Am Rand des Hügels warf Luke einen Blick auf die Baumreihe am Fuß des Hangs. Nichts. Dort war überhaupt nichts mehr zu sehen.
»Was ist? Wo ist es?«, flüsterte Dom mit angespannter hoher Stimme, die man kaum wiedererkennen konnte.
»Es ist weg. Da runter gelaufen.« Luke sah über das Zeltdach hinweg. »Schau nach vorn!«
»Was?«
»Nach vorn!« Luke rannte zurück zu der Stelle, wo Dom saß, der ihn erschrocken und begriffsstutzig anstarrte.
Luke suchte das felsige Plateau ab, die Ränder des Gipfels, die westliche und die nördliche Seite. Nichts.
Er schüttelte den Kopf, beugte sich vor, stemmte die Arme auf die Oberschenkel und schnappte nach Luft. »Oh Mann.«
»Was denn? Wo ist es jetzt?«
Luke sah ihn an. »Es hat versucht, mich auszutricksen. Ich wurde von den Geräuschen fortgelockt. Aber von dort kommt es gar nicht. Es kommt von hinten, während man in die falsche Richtung guckt. Es war direkt hinter dem Zelt.«
»Nein!«
Luke nickte. »Ganz plötzlich wurde mir klar, was dieses Mistvieh vorhatte. Es ist dort hinten auf der Südseite hochgeschlichen. Um dich zu holen.«
»Scheiße.« Dom richtete sich mühsam auf und stützte sich auf seine Krücke. »Hinter dem Zelt? Hast du es gesehen?«
Sie blickten einander mit weit aufgerissenen Augen an. Luke schüttelte den Kopf.
»Nein, aber ich glaube, es ist verdammt groß.«
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»Es ist schon wieder in der Nähe. Hast du’s gehört?«
Aber als Luke den Kopf drehte, um nachzuschauen, warum Dom nicht antwortete, sah er, dass sein Freund die Augen geschlossen hatte. Vor Erschöpfung und Angst war er eingeschlafen. Mehr Trost gab es in diesem Wald nicht für ihn.
Luke fasste ihn an der Schulter und schüttelte ihn.
Ganz langsam schlug Dom die Augen auf. »Bin ich eingeschlafen ?« Er sprach schleppend und undeutlich.
»Du schläfst besser zuerst«, sagte Luke leise und wies mit dem Lichtschein seiner Taschenlampe auf den Zelteingang.Es war jetzt halb elf. Die erste von acht Stunden Dunkelheit war vergangen.
Sie hatten ihre Schlafsäcke aufgezogen, sich damit zugedeckt und sich Rücken an Rücken vor den Zelteingang gesetzt und zugesehen, wie das letzte Tageslicht verging. Jeder hielt eine Taschenlampe und ein Messer in den Händen.
Wenn sie beide ins Zelt gingen, würde das ihren sicheren Tod bedeuten. Sie mussten sich mit dem Schlafen abwechseln. Luke hatte das schon früher vorgeschlagen, aber Dom hatte sich dagegen ausgesprochen, weil er Angst davor hatte, im Zelt eingeschlossen zu sein und die Umgebung nicht beobachten zu können. Stattdessen hatte er vorgeschlagen, dass sie die ganze Nacht wach blieben, um aufzupassen.
»Ich werde nicht einschlafen«, sagte Luke. »Du gehst als Erster da rein. Du musst dich dringend ausruhen. Ich halte Wache bis Mitternacht. Du nützt uns nichts hier draußen, wenn du im Sitzen einschläfst.«
Aber Dom blieb weiter draußen vor dem Zelt, die Schultern gegen Lukes Rücken gedrängt, und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe immer wieder über den felsigen Untergrund gleiten. »Entschuldige, ich werde bestimmt nicht wieder einschlafen.
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