Im Visier des Todes
der Name Leah aufflackerte. Sonst hätte er den Wagen gewendet, ihr Haus im Rückspiegel hinter sich gelassen und sich weiterhin damit zufriedengegeben, dass sein Vertrauen für die paar Stunden eines One-Night-Stands ausreichte, und für mehr war er einfach nicht gemacht.
Er sollte nicht mehr an sie denken. Sie verdiente mehr als beiläufigen Sex, aber ihm machte dieses Mehr Angst, denn es ließ sich nicht in Bilder bannen und an Wände nageln. Das Mehr bedeutete, sie an seine Wunden heranzulassen. Aber ihr Mitleid brauchte er nicht. Nie wieder wollte er Mitleid in fremden Blicken entdecken.
Seine Hände ballten sich, die Finger durften nicht zittern. »Komm schon, Kay. Es ist schon lange her.«
Immer wieder musste er es sich sagen.
Dass aus dem obdachlosen Jungen, der auf der Straße fror und vor Kälte zusammenbrach, ein erfolgreicher Mann wurde, dem alle Türen offen standen. Und dieser Mann untersagte es sich, eine Vergangenheit zu haben.
Er ließ sich in den Autositz zurückfallen. Können wir uns sehen? Sollten wir das?
Er senkte den Blick auf seine Hand, deren ruhelose Finger den Rollfilm herumdrehten. Seine Schatten durften sie nicht berühren. Denn er wusste nicht, ob er stark genug war, sich ihnen zu stellen.
Trotzdem war er jetzt da. Um zu reden, wenn sie es denn noch wollte. Obwohl gerade das nicht unbedingt zu seinen Königsdisziplinen zählte. Oder um sie nach einem beschissenen Arbeitstag einfach im Arm zu halten, wenn er es durfte. Er … hatte eindeutig zu oft darüber nachgedacht.
Es dämmerte bereits, als sie die Straße entlangkam. Ihr langer Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt, die gelösten Strähnen, die sich nicht bändigen ließen, betonten die Kontur ihres Gesichts: das Zarte, das Wilde, das, was sein erfolgreiches, routiniertes Leben aus den Angeln hob. Der Mann, der es sich untersagte, eine Vergangenheit zu haben, war auch der Mann, auf den keine Zukunft wartete. Er hatte es bloß nie bemerkt. Bis jetzt. Bis etwas an ihr ihm seine Starre vor Augen führte.
Sie ging an seinem Wagen vorbei und klingelte bei den Nachbarn. Die Frau, die ihr öffnete, brach in Erklärungen aus, wofür sie Hände, Füße und zwei miteinander raufende Jungs benötigte. Leah nickte und wandte sich schließlich ab.
Kay stieg aus, schaffte es, den Rollfilm in der Manteltasche zu versenken, und kam ihr entgegen. Sie verlangsamte ihre Schritte, versteifte sich. Rasch blickte sie zurück zum Nachbarhaus, und erst als er unter eine der Laternen trat, löste sich ihre Anspannung etwas.
»Hallo«, sagte er leise und legte eine Handfläche auf den Zaun, der bereitwillig nach und nach seine Wärme in sich aufnahm. Leblosen Dingen Wärme schenken, das konnte er gut. Menschen zu berühren gelang ihm hingegen nur durch sein Objektiv. Bis zu dem Abend im Büro, als er ihr Gesicht unter seiner Handfläche gespürt hatte. Plötzlich fragte er sich, warum sein Herz so raste. Er war sich immer so fremd, aber ihr, hier und jetzt, so erschreckend nah.
Sie sagte nichts, also redete er weiter: »Ich glaube, ich bin es, der dir einiges erklären muss.«
Etwas an ihrem Gesichtsausdruck verstörte ihn. Als würde er in seine eigene Seele eintauchen, den gleichen Schmerz in ihr fühlen. Und er begriff, dass sie seine Wunden längst berührte und es nichts mehr zu verbergen gab. Das hätte er schon bei ihrer ersten Begegnung unter dem Baum spüren sollen, als seine Flucht vor der Welt bei ihr ein Ende fand.
Noch nie hatte sich die Hilflosigkeit greifbarer gefühlt. Denn er war der Letzte, der ihr den Schmerz nehmen könnte, hatte er doch bei seinem eigenen versagt. »Ist etwas passiert?«, fragte er nur.
»Nein. Alles in Ordnung. Ich hatte meine Mutter heute bei der Nachbarin abgegeben. Aber anscheinend war sie irgendwann zu müde und ist nach Hause gegangen.«
»Abgegeben?«
»Wie bei einem Kleinkind, ja, ich weiß, wie das klingt. Aber sie sollte jetzt lieber nicht allein sein. Willst du … willst du reinkommen? Ich muss kurz nach ihr sehen.« Hastig schaute sie sich um. »Es wäre mir lieber, wenn wir uns drinnen unterhalten würden.«
»Gern.«
Er folgte ihr und wartete im Flur an der Treppe, bis sie zurückkam, die Arme eng um den Körper geschlungen. Er kannte es, dieses Gefühl, auch im Warmen zu frieren.
»Und, geht es ihr gut?«
»Sie schläft. Hat anscheinend ihre Tabletten genommen. Sie muss sich erholen.« Geräuschlos ging sie an ihm vorbei ins Wohnzimmer, und es kam ihm vor, als würde sie gleiten.
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